geht’s noch?: Nur heiße Luft
Wochenlang schrieben die Leitartikler dieses Landes Jamaika einfordernd herbei, um nach dem Scheitern der Sondierungen direkt eine Neuauflage der Groko einzufordern. Was denn nun?
Dieser Text ist eine Glosse, eine Randbemerkung also zum Zeitgeschehen beziehungsweise zur medialen Zweitverwertung ebenjenes realen Geschehens. Letztlich ist nämlich alle journalistische Berichterstattung glossierend: Der Journalismus schafft keine Fakten, er stellt sie dar: berichtend, aufdeckend und gewiss auch analysierend, zuspitzend und einfordernd. Aber der Journalismus ist sekundär – und er soll es auch sein.
In den letzten, von den Koalitionssondierungen geprägten Wochen war das mal wieder anders. Der Verfasser kann sich jedenfalls an keinen Morgen erinnern, an dem die überbordende Jamaika-Berichterstattung auf allen Kanälen nicht mit einem Jamaika-Experten-Interview abgerundet worden wäre, in dem auf die abschließende „Wird das noch was?“-Jamaika-Frage die „Ja, das wird noch was“-Jamaika-Antwort folgte.
Die Vermutung, dass hier ein Fall kollektiver Selbsthypnose, wenn nicht schwerer Hybris vorliegt, wird dadurch bestätigt, dass die Überraschung nach der Jamaika-Absage der FDP in allen gesellschaftlichen Gruppen und politischen Lagern die gleiche und riesige war. Und das bedeutet ja wohl, dass man aus den Vorhersagepleiten bei Trump, Brexit u. a. nichts gelernt hat und – schlimmer – auch weiterhin vorhat, nichts zu lernen: Las man am vergangenen Samstag noch Leitartikel, die Jamaika einfordernd vorhersagten, folgten nach dem Schock direkt solche, die eine Neuauflage der Großen Koalition vorhersagend einforderten.
So wie fast niemand nah genug dran war am weißen, ländlichen Amerika, um Trump vorhersehen zu können, oder fast niemand mit seiner Stimme gegen den Mainstream durchdrang, so war offensichtlich auch fast niemand nah genug an der FDP dran, um deren Manöver auf dem Zettel haben zu können. Das ist unbefriedigend, aber es ist okay. Nicht okay ist es, das eigene Nichtswissen dem Plan zu unterwerfen, dass Jamaika schon kommen werde, weil es eben kommen müsse oder solle.
Das wochenlange Bombardement mit Jamaika-Wasserstandsmeldungen zu den Hauptsendezeiten war an sich schon problematisch angesichts einer Welt, die sich nicht nur beständig weiterdreht, sondern – mal so als Beispiel – auch beständig heißer wird. Von dem Sondierungskonklave bleibt dann eben auch nur dies: kein weißer und kein schwarzer Rauch, sondern nur eine Menge heiße Luft.
Und das ist nicht nur einfach zu wenig – es schadet: den Medien, den Bürgerinnen und Bürgern und der Demokratie. Ambros Waibel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen