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Erst Türkisch, dann Deutsch

taz-Serie „Migration und Bildung“ (Teil 3): Nur sieben Grundschulen fördern türkische Kinder mit bilingualem Unterricht. Zu wenig Interesse bei den Eltern, sagen die einen. Zu wenig Werbung für ein erfolgreiches Konzept, kritisieren die anderen

von SABINE AM ORDE

Dilek ist schnell. „Es ist kalt“, antwortet die Sechstklässlerin prompt auf die Frage der Lehrerin. Daniela braucht etwas länger: „Bugün hava . . .“ Sie dreht sich hilfesuchend um. An der Wand des Klassenraums hängen zwei Listen mit Begriffen zum Thema Wetter: Auf der blauen Pappe stehen die deutschen, auf der roten die türkischen Wörter. Dort findet Daniela das türkische Wort für „kalt“: „Bugün hava soguk“, sagt sie und grinst.

Im Klassenraum der 6c der Weddinger Trift-Grundschule sitzen 25 Kinder im Kreis. Ihre Eltern kommen aus Deutschland und der Türkei, aus Mauretanien, Bulgarien, Ungarn und Griechenland. Ihre Lehrerin zählt anders: „Acht Kinder stehen für die deutsche, vierzehn für die türkische Herkunftssprache“, sagt Ursula Rasch, die gemeinsam mit ihrer türkischen Kollegin Yildiz Gülseren Klassenlehrerin der 6c ist. „Und drei haben schon zu Hause beide Sprachen gelernt“, ergänzt Rasch. Inzwischen können alle Schüler Türkisch und Deutsch – wenn auch unterschiedlich gut. Seit der ersten Klasse werden sie zweisprachig erzogen.

Damit sind Dilek, Daniela und die anderen auch 18 Jahre nach Beginn der zweisprachigen Alphabetisierung an Berliner Grundschulen noch immer Raritäten. Nur knapp 5 Prozent aller Berliner GrundschülerInnen bekommen nach diesem Modell zweisprachigen Unterricht. Von 19 Schulen, die einst das Konzept angewendet haben, sind nur noch sieben übrig.

„Die zweisprachige Erziehung hat unsere Hoffnungen nicht erfüllt“, begründet die Kreuzberger Schulrätin Hannelore Kern den Rückgang. Die türkischen Kids, die bei der Einschulung immer weniger Deutsch können und immer häufiger in der Schule scheitern, sollten möglichst schnell die deutsche Sprache lernen. Denn das scheint der Dreh- und Angelpunkt der neuen Bildungskatastrophe zu sein. „Bei den Kindern sind aber wesentlich bessere Deutschkenntnisse nicht feststellbar“, sagt Kern.

Der bildungspolitische Sprecher der Grünen, Öczan Mutlu, hält von dieser Einschätzung nichts. „Die zweisprachige Erziehung ist eine Antwort auf das derzeitige Bildungsproblem“, sagt er. Ähnlich sieht es Ursula Rasch: „Unsere Kinder sind nicht besser, aber sie sind zweisprachig.“ Es gehe nicht darum, ein Defizit zu kompensieren, betont die Lehrerin. Man suche vielmehr einen Weg, der Mehrsprachigkeit vieler Kinder gerecht zu werden und Schüler unterschiedlicher Herkunftssprachen gemeinsam zu unterrichten.

„Unsere Kinder zeigen, dass das Konzept funktioniert“, sagt Rasch. Dilek sei das beste Beispiel dafür. Bei ihrer Einschulung konnte das Mädchen – wie drei ihrer Mitschüler – kein Wort Deutsch. Heute ist Dilek Klassenbeste – und strotzt vor Selbstbewusstsein: „Wir haben zwar mehr Stunden, aber manchmal sind wir auch schlauer als die deutschen Kinder.“

Fünf Unterichtsstunden zusätzlich haben die türkischen Kinder pro Woche. Und eigentlich ist die Bezeichnung „zweisprachige Alphabetisierung“ auch nur für diese Kinder korrekt. Denn sie lernen tatsächlich in beiden Sprachen lesen und schreiben. Nach der sechsten Klasse sollen sie so den Anschluss im Deutschen an die Oberschule haben – und an die türkische Schriftkultur. Die deutschen Kinder werden nur in ihrer Muttersprache alphabetisiert. Türkisch lernen sie als Begegnungssprache, wie es im Fachjargon heißt.

Konkret sieht das so aus: Erst lernen die türkischen Kids bei Yildiz Gülseren einen neuen Buchstaben, dann beschäftigt sich die ganze Klasse damit – in beiden Sprachen, bei beiden Lehrerinnen. Auch inhaltlich sind die Stunden verzahnt. Wenn in Geschichte etwa das alte Ägypten auf der Tagesordnung steht, geht es im türkischen Unterricht um das Totengericht. Im so genannten Kooperationsunterricht kommt dann die Mumifizierung dran.

Kreuzberger Modell

Entstanden ist das Konzept Anfang der 80er-Jahre in einer Kreuzberger Grundschule. Dort mussten engagierte LehrerInnen feststellen, dass immer mehr türkische Kids ihrem Unterricht nicht folgen konnten. Denn die sollten in einer Sprache lernen, die sie nicht verstanden. Bald entstand ein Modellversuch, an dem sich zunächst fünf Kreuzberger Schulen beteiligten. Das damalige Konzept: Die Einwandererkinder wurden in zwei Sprachen gefördert – in reinen Ausländerklassen und auf zwei Jahre begrenzt. Dann sollten sie im Deutschen so fit sein, dass sie dem normalen Unterricht folgen können. „Heute weiß man, dass solche kompensatorischen Ansätze ziemlich erfolglos sind“, sagt Andreas Heintze, der den Modellversuch damals wissenschaftlich begleitete.

Eine Schule ging weiter: Sie alphabetisierte ihre türkischen Kinder gleichzeitig und koordiniert in Türkisch und Deutsch. Erstmals wurde eine zweisprachige, interkulturelle Fibel entwickelt. Unter dem rot-grünen Senat wurde der Versuch ausgeweitet. Heute bieten aber nur noch sieben Schwerpunktschulen die bilinguale Erziehung an.

Die Nürtingen-Schule am Mariannenplatz, an der das Konzept einst entstand, gehört nicht mehr dazu. Die Lehrer haben sich vor den Sommerferien gegen die Weiterführung entschieden. „Dieses Konzept hat keine Basis mehr“, sagt Schulleiter Gerd-Jürgen Busack. Seit Jahren schon mangele es an deutschen Kindern für den zweisprachigen Unterricht. Zudem seien inzwischen die türkischen Kids mit der Alphabetisierung in zwei Sprachen überfordert. „Früher konnten sie zwar kein Deutsch, hatten aber eine ausgebildete türkische Muttersprache“, sagt Busack. Heute hätten die Kinder auch in ihrer Muttersprache große Defizite – und damit keine Grundlage für den weiteren Spracherwerb. „Ihnen fehlen Alltagsbegriffe für Farben oder für Tiere.“ Die Ursache laut Busack: Viele Eltern würden ihre Kinder nicht ausreichend fördern. Sie würden mit ihrem Nachwuchs zu wenig spielen, ihn ständig vor das Fernsehgerät setzen. Und die Eltern, denen die Bildung ihrer Kinder am Herzen liegt, würden rein deutschen Unterricht bevorzugen. Die fehlende Nachfrage bestätigt auch die Kreuzberger Schulrätin Kern. Sie sei der Hauptgrund, warum sich mehrere Schulen gegen die Fortführung entschieden haben.

Ertugrul Mut vom Türkischen Elternverein sieht das anders. Es gebe sehr wohl Interesse am zweisprachigen Unterricht, sagt Mut, der selbst Lehrer ist. „Schließlich haben wir an der Nürtingen-Grundschule gegen die Abschaffung mit einer Menschenkette protestiert.“ Die Schule habe zu wenig für das bilinguale Angebot geworben, so Mut. Nachweisen kann man beide Positionen nicht. Doch das Beispiel der Trift-Schule zeigt, dass es auch anders geht: „Wir haben eher zu viele Kinder“, sagt Lehrerin Ursula Rasch.

Den Türkischen Elternverein bringen aber auch Schuldzuweisungen durch Leute wie Busack auf die Palme. „So werden die türkischen Eltern diffamiert.“ Nach Muts Ansicht ist die Förderung der Kinder keine ethnische, sondern eine schichtenspezifische Frage: „Diese Probleme gibt es auch bei deutschen Kindern.“

Wissenschaftlich untersucht ist die zweisprachige Erziehung an den Berliner Grundschulen bislang kaum. Zwar wurde das Modellprojekt bis 1993 von Forschern begleitet. Doch der Senat untersagte die Veröffentlichung des Abschlussberichts, der ihm nicht gefiel. Eine Anschlussuntersuchung blieb aus. „Eine kritische Forschung fehlt“, sagt die Linguistin Monika Nehr, die damals mit Heintze an der wissenschaftlichen Begleitung beteiligt war. In der Arbeitsstelle zweisprachige Erziehung, die ein kleines Büro in Kreuzberg hat, arbeiten beide weiter zum Thema. „Aber es fehlen ein Apparat und Zuarbeit von den Universitäten.“

Unerforschtes Thema

Nehr und Heintze haben die Lesefähigkeit der Schüler untersucht. Sie stellten fest, dass die „zweisprachigen“ Kinder genauso gut in zwei Sprachen lesen und schreiben können wie „einsprachige“ Kinder in einer Sprache. Allerdings stellt sich dieser Erfolg erst nach einigen Jahren ein. Studien aus den USA empfehlen eine Dauer von mindestens 6 Jahren. „Zweisprachige Lernprozesse verlaufen eben anders als einsprachige“, sagt Nehr.

Wichtig aber ist der Linguistin nicht nur der Spracherwerb: „Die türkischen Kinder fühlen sich ernst genommen und aufgehoben. Deshalb lernen sie lieber und haben auch andere Erfolge.“ Und Lehrerin Ursula Rasch betont: „Die Kinder sind neugierig auf die anderen Kulturen und damit gegen Rassismus gefeit.“

Zwar wurde die bilinguale Erziehung in Deutschland bisher kaum untersucht. Belegt aber sei, so Nehr und Heintze, dass zweisprachige Erziehung erfolgreich sein kann – wenn die Bedingungen stimmen. Die beiden nennen dafür vier Faktoren: Beide Sprachen müssen gleichgewichtig vertreten sein, die Lehrer gut kooperieren, die Lehrmaterialien stimmen, und das Konzept muss verbindlich sechs Jahre lang umgesetzt werden.

Genau hier setzten die Probleme an: Die LehrerInnen, die stets im deutsch-türkischen Zweierteam arbeiten, sind fast ausschließlich Kämpfer von einst und heute zwischen 50 und 60 Jahre alt. Viele sind krank, manche schon im Ruhestand. „Lehrer für die zweisprachige Erziehung wurden an den Unis nicht ausgebildet und auch nicht neu eingestellt“, kritisiert Heintze. Sie sind also Mangelware. „Wir wissen, dass die zweisprachige Erziehung da funktioniert, wo es engagierte Lehrer gibt, bei denen die Teamarbeit klappt.“ Auch verbindliche Rahmenpläne und eine kritische Begleitforschung fehlen. Und: Die Leistungen im Türkischen sind noch immer nicht zeugnisrelevant. Das aber sei wichtig für die Motivation der Kids und die Attraktivität des Modells für die Eltern. Aus Sicht der beiden Wissenschaftler hat die Schulverwaltung versagt: „Die Politik wollte und will dieses Modell nicht.“ Ganz anders verhalte sich das Land bei den Europaschulen, die Bilingualität weniger als Problem denn als Ideal betrachten. „Da wird zwar auch nicht evaluiert, aber da wird reingepowert“, sagt Heintze. Für manche Kids gelte Zweisprachigkeit, etwa Englisch-Deutsch oder Spanisch-Deutsch, eben als schick. Den türkischen Kindern aber wolle man ihre Zweisprachigkeit aberziehen. Für Andreas Heintze ist dies eine grundsätzliche Frage, weit über die Bildungspolitik hinaus: „Diese Gesellschaft muss endlich anerkennen, dass sie mehrsprachig ist – und dann muss das Bildungswesen auch mehrsprachig sein.“ Für die 6c der Trift-Grundschule ist das längst Realität.

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