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erbauungEin Sonntag mit Grass

Sonntagmorgen in Berlin: Schreckliche Leere. Verlassen liegen die Straßen, die Arbeitsplätze sind verwaist, Langeweile quält uns seit dem Aufstehen. Dies Vakuum zu füllen, gibt es viele Versuche: Clubs dehnten nächtliche Tanzwut und anschließenden Chill-out bis zum Sonntagmittag aus, eine lokale Zeitung druckt eine Sonntags-Ausgabe, Kneipen laden zum opulenten Brunch. Vergeblich! Nur Kompensationsangebote, allesamt sinnlos. Sonntags verlangt der Mensch nicht nach Tanz, Tafeln oder Tagesspiegel, sondern nach Erbauung.

Nicht zufällig ist es deshalb der Sonntagvormittag, der in gottesfürchtigeren Gegenden dieser Welt dem Kirchgange vorbehalten ist. Wie groß auch in der atheistischsten unter den deutschen Städten die Sehnsucht nach einem Äquivaltent ist, konnte man an diesem Sonntagvormittag in der Akademie der Künste erleben. Dort unterhielt sich gestern Günter Grass mit Wolfgang Thierse. Vordergründig ein „Dialog zwischen Schriftsteller und Politiker“. In Wahrheit eine Messe: Grass rückt ein Weltbild gerade, das für viele Schäfchen seit dem 11. September zu wanken nicht aufhören will.

Die verstörte Gemeinde wird schon beruhigt durch die vertrauten liturgischen Geräte: Die Grass‘sche Kordhose. Die Pfeife. Die Rotweinflasche. Der Meister liest aus seinem Buch „Mein Jahrhundert“, ein Werk das von professionellen Kritikern bös verrissen, vom Publikum ob seiner Zugänglichkeit jedoch dankbar angenommen wurde. Hierin dem Evangelium nicht unähnlich. Das deutsche Expeditionskorps beim Boxeraufstand in China kommt zum Vortrag, von der Schulhofrezeption des Spanischen Bürgerkriegs erzählt der Autor und schließlich von der Zeit der Roten Armee Fraktion. Und selbst dem geistig Ärmsten wird bei dieser Lesung klar: Zweifle nicht länger! Militäreinsätze, deutsche Beteiligung, Rasterfahndung – alles schon einmal dagewesen, alles des Teufels. Nichts Neues gibt es unter der Sonne – auch seit dem 11. September nicht.

Noch konkreter wird die Predigt, die Grass dann mit Thierse zumindest ansatzweise in Dialogform hält. Der Terror? Resultiere aus dem Nord-Süd-Konflikt, auf den der selige Willy Brandt ungehört hingewiesen hat. Seine Bekämpfung? „Wir sind schon wieder auf dem Weg, das Geschäft der Terroristen, nämlich die Schwächung der Demokratie, zu betreiben.“ Nur kleinlaut wagt Thierse Einwände. Der Islamismus habe „nicht nur soziale, sondern auch religiös-ideologische Wurzeln“. Er selbst habe die BRD trotz ihres Anti-Terror-Gesetzes als „sehr freiheitlich erfahren“. Doch der vorsichtige Zweifler steht allein gegen Grass und sein Publikum. „Wenn ihr den Terrorismus von heute bekämpfen wollt, lest Döblin und Dostojewski.“ Wer es auch eine Nummer kleiner nimmt: Wenn ihr wieder einen leeren Sonntag bekämpfen wollt, meidet Grass, lest Dostojewski!

ROBIN ALEXANDER

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