: dokumentation
Volk und Heym
„Liebe Freunde, Mitbürger, es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung! [. . .] In der Zeit, die hoffentlich jetzt zu Ende ist, wie oft kamen da die Menschen zu mir, mit ihren Klagen. [. . .] Und ich sagte, so tut doch etwas. Und sie sagten resigniert, wir können doch nichts tun. Und das ging so in dieser Republik, bis es nicht mehr ging. [. . .] Die Mehrzahl erklärte [. . .]: Schluß, ändern, wir sind das Volk!“
Stefan Heym, 4. 11. 1989 auf der Massenkundgebung auf dem Ostberliner Alexanderplatz
„Die großen, die erhebenden Momente sind vorbei [. . .] Aus dem Volk, das nach Jahrzehnten Unterwürfigkeit und Flucht sich aufgerafft und sein Schicksal in die eigenen Hände genommen hatte und das soeben noch, edlen Blicks, einer verheißungsvollen Zukunft zuzustreben schien, wurde eine Horde von Wütigen, die, Rücken an Bauch gedrängt, Hertie und Bilka zustrebten auf der Jagd nach dem glitzernden Tinnef. Welche Gesichter, da sie, mit kannibalischer Lust, in den Grabbeltischen, von den westlichen Krämern ihnen absichtsvoll in den Weg platziert, wühlten; und welch geduldige Demut vorher, da sie, ordentlich und folgsam, wie’s ihnen beigebracht wurde zu Hause, Schlange standen um das Almosen, das mit List und Tücke Begrüßungsgeld geheißen war von den Strategen des Kalten Krieges. [. . .] Nicht sie sind schuld, diese Vergierten, an ihrer Entwürdigung; schuld sind die, die da in dem Land hinter der Mauer eine Wirtschaft führten, in welcher Mangel an Logik zu einem Mangel an Gütern führte [. . .].“
Stefan Heym, 4. 12. 1989 im „Spiegel“
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