die wahrheit: Vogelfreier auf dem Sofa
Deutsche Privathaushalte müssen jetzt Guantánamo-Häftlinge aufnehmen.
"Kannst du mir sagen, wo die Schere ist?" - "Nein, Hartmut, kann ich nicht!"
Bedauernd zucke ich mit den Schultern. Mein Gast sackt auf dem Sofa tief in sich zusammen und versinkt erneut in Agonie: Gleichmäßig mahlen seine Kiefer an den "Gut & Günstig"-Erdnüssen, teilnahmslos verfolgt er "Richterin Barbara Salesch". Danach wird er sich "Richter Alexander Hold" und "Das Strafgericht" angucken, bis es Schlafensgehzeit ist. Dann muss ich ihn ins Bett prügeln, sonst schläft er nicht ein.
Selbstverständlich weiß ich, wo die Schere ist, aber er würde ja doch nur versuchen, sich umzubringen: Das entnehme ich der vierseitigen Informationsbroschüre, die ihm das Bundesaußenministerium für mich mitgegeben hat, als er vor zwei Wochen stumm vor meiner Wohnungstür stand. Vereinbarungsgemäß habe ich ihn für unbestimmte Zeit bei mir untergebracht - Hartmut Roleder ist ehemaliger Guantánamo-Häftling.
Bis auf die Broschüre fühle ich mich mit dem Problem alleingelassen, doch eine wirksame Einzelfallhilfe ist nicht leistbar, dafür sind es schlicht zu viele. In deutschen Stuben heißt es dieser Tage buchstäblich enger zusammenzurücken - wie nach dem Krieg, als Unmengen ostpreußischer Flüchtlinge von einem Tag auf den anderen ein Dach über den Kopf benötigten. Auch heute ist nahezu jeder Haushalt betroffen, denn allein die Bundesrepublik nimmt zehn Millionen Guantánamo-Häftlinge auf.
Fast alle sind verhaltensgestört, schwer traumatisiert und vor allem unschuldig. So wurde Hartmut allein seine Bartlänge von zwanzig Zentimetern zum Verhängnis. Als Direktor des kleinen Zirkus "Paletti" auf der Festwiese in Buxtehude wurde er 2002 nach einer Tortenschlacht mit Clown Chico von Beamten des CIA direkt hinter dem Vorhang wegverhaftet. Dass der Bart bloß angeklebt war, hinderte die Terroristenjäger nicht daran, ihn unter Mithilfe der Buxtehuder Verkehrspolizei zu betäuben und nach Guantanamo Bay zu verschleppen. Doch der neue US-Präsident Barack Obama machte den "ungesetzlichen Kombattanten" wieder zum Zirkusdirektor. "Circus Director" stand denn auch als Entlassungsgrund auf dem Laufzettel, der ihn schließlich auf mein Sofa spülte. Seitdem sitzt er dort.
Mühsam versuche ich, ihn an ein normales Leben heranzuführen. Das ist nicht einfach, sieben Jahre Internierung haben tiefe Wunden hinterlassen. Er hört nur, wenn ich ihn anschreie. In seinem Schlafzimmer liegt eine Matratze vom Müll, meine saubere wollte er nicht. Darüber brennt die ganze Nacht eine 200-Watt-Birne, damit er schlafen kann. Er nimmt ausschließlich Wasser und Erdnüsse zu sich. Morgens kommt er nur in Tritt, wenn ich ihn in eine Badewanne mit eiskaltem Wasser setze und seinen Kopf so lang unter Wasser drücke, bis er zu ertrinken droht. Danach erst schlurft er zum Sofa, um sich wieder den ganzen Tag Gerichtsshows anzuschauen.
Des Öfteren habe ich ihn jetzt Brötchen holen geschickt, doch er kehrt stets mit leeren Händen zurück. Ich verhöre ihn dann stundenlang in schreiendem Ton, wo er war - das ist fast das Einzige, was wenigstens so etwas wie Regung in sein ansonsten ausdrucksloses Gesicht zaubert. In ein Fiasko mündete der Versuch meiner Nachbarn und mir, die uns zugeteilten Exhäftlinge gemeinsam in den Park auszuführen. Die ganze Zeit über kauerten sich die Schützlinge schweigend unter einen Busch: Zu weit ist noch der Raum, zu zahlreich sind die Reize.
Doch es gibt erste Zeichen der Besserung. Aus der anfänglichen halben Tüte Erdnüsse sind inzwischen zwei geworden. Und jetzt muss ich ihm auch nur noch acht Stunden am Tag mit Klebeband den Mund verschließen. In der übrigen Zeit spricht Hartmut Roleder dann manchmal auch schon mit mir, selbst wenn es nur um die Frage geht, wo eine Schere, ein Messer oder ein Strick zu finden sei.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Tod von Gerhart Baum
Einsamer Rufer in der FDP-Wüste
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Jens Bisky über historische Vergleiche
Wie Weimar ist die Gegenwart?