die wahrheit: Überirdisch unterwegs in London
U-Bahn-Angestellte in London haben eine beträchtliche Macht. Wenn sie nicht wollen, läuft nichts mehr in der englischen Hauptstadt. Vorige Woche wollten sie nicht.
Sie streikten zwei Tage lang, die Bevölkerung musste überirdisch reisen. Das tat sie denn auch - in überfüllten Bussen und auf Fahrrädern. 12.000 Fußballfans schafften es nicht ins Wembley-Stadion, wo England sein Qualifikationsspiel zur Fußballweltmeisterschaft 2010 gegen Andorra austragen musste. Die Eisenbahnchefs hatten kurzerhand den Bahnhof am Stadion geschlossen, weil sie wegen des U-Bahn-Streiks einen zu großen Andrang fürchteten. Und die Busse brauchten in dem Chaos von der Innenstadt zum Stadion mehr als zwei Stunden statt der sonst üblichen 45 Minuten.
In einem dieser Busse der Linie 36 saß Pawel Modzelewski, und er machte auch an der Endhaltestelle keine Anstalten, auszusteigen. Der Fahrer versuchte, den 25-jährigen Polen zu wecken. Als ihm das nicht gelang, ließ er ihn auf dem Oberdeck sitzen und parkte den Bus im Depot am New Cross Gate. Das Reinigungspersonal machte an diesem Abend nur das Unterdeck sauber, und als der Bus am nächsten Morgen wieder einsetzte, diesmal auf der Linie 171, saß Modzelewski noch immer oben im Bus.
In Brockley stieg ein weiterer Passagier ein. Als er an dem Polen vorbeilief, wunderte er sich über dessen schlechte Haltung. Aber auch er konnte ihn nicht auferwecken, denn Modzelewski war am Vorabend in dem Bus verstorben, und keiner hatte es gemerkt. Der Busfahrer rief die Polizei. Sie fand eine Spritze in der rechten Hand des Toten und in der linken etwas Heroin. Nun ist eine Untersuchungskommission gegründet worden. Sie soll dafür sorgen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Müssen die Fahrer künftig Passagiere, die zu lange still sitzen, an jeder zweiten Haltestelle schütteln?
Dann hätten sie viel zu tun, denn der Engländer an sich zeigt selten Regungen. Vor einigen Jahren ist in Dublin ein Junkie angeklagt worden, weil er den Tod seiner Freundin, die an einer Überdosis gestorben war, erst nach zwei Tagen gemeldet und sogar Sex mit der Leiche gehabt hatte. "Sie war Engländerin", verteidigte er sich, "und nie besonders lebhaft im Bett." Der Richter hatte Verständnis und sprach ihn frei. Dass Karen Angus aus dem nordenglischen Newcastle nicht ebenfalls gestorben ist, lag daran, dass ihr das Benzin ausging. Sie bog mit ihrem Mercedes an einem Bahnübergang rechts ab und fuhr auf den Schienen in Richtung Wansbek, einem Vorort von Newcastle. Nach knapp einem Kilometer blieb der Wagen stehen. Der Lokführer eines entgegenkommender Zuges wunderte sich über das Scheinwerferlicht auf den Schienen und zog vorsichtshalber die Bremse. Kurz vor dem Auto kam er zum Stehen. Als er die Frau am Steuer fragte, was sie vorhabe, antwortete sie: "Ich bin Alkoholikerin. Mein Wagen springt nicht an." Der Arzt hatte sie am Morgen auf eine andere Tablette umgestellt, und Angus hatte sie mit einer Flasche Wein heruntergespült. Es muss eine große Tablette gewesen sein.
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