die wahrheit: Tod eines lieben Onkels
Verschwörungstheorien – Was haben Onkel Dittmeyer und Michael Jackson gemeinsam? Warum gibt es noch keine Ermittlungen?
Angefangen hatte es Anfang der Neunzigerjahre mit dem verstörenden Aufruf: "Tötet Onkel Dittmeyer!" Eine Gruppe vermutlich traumatisierter Jugendlicher, die sich Die angefahrenen Schulkinder nannten, bedruckten T-Shirts mit dem Slogan und produzierten eine CD mit der gleichen Titelzeile. Was warfen die Rohlinge aber eigentlich dem freundlichen Safthersteller Onkel Dittmeyer vor? Dass er Orangen bis aufs Blut auspresste? Dass er leichtgläubigen Kunden weismachte, sein Fruchtzaubertrank sei nur von frisch gepresstem Saft zu übertreffen? "Entweder frisch gepresst oder Valensina!", hatte der Onkel in Fernsehwerbespots getönt. Doch die kritischen Schulkinder warfen ihm etwas anderes vor: seine übergroße Kinderfreundlichkeit nämlich. Seine Werbeserie sei "die übelste Päderastenserie unter der Sonne", behaupteten die Schulkinder damals im Interview.
Selige Neunzigerjahre, als ein harmloser Onkel Dittmeyer noch als die Ausgeburt des Päderastengrauens gelten konnte. Ein "humorvoller" Richter (Spiegel) mochte Die angefahrenen Schulkinder seinerzeit nicht für ihren Gewaltaufruf bestrafen. Und doch könnte dieser auf fruchtbaren Boden gefallen sein, denn - rätselhafte Koinzidenz - gleich zwei Prominente, die mit dem Odeur der Pädophilie behaftet waren, blieben in diesem Jahr auf der Strecke: Michael Jackson und Onkel Dittmeyer!
Während die Amerikaner umgehend einen Mordfall vermuten und so scharf ermitteln, dass sich im Fall Jackson der verdächtige Kinderarzt immer mehr im Gespinst seiner Aussagen verheddert, fordert bei uns niemand, den Fall Dittmeyer zu überprüfen. Warum nicht? Dabei fragen wir uns, ob alle angefahrenen Schulkinder ein Alibi haben? Und warum gehen die eigentlich immer noch zur Schule? Wurde die Päderasten-Lynchszene befragt? Und was ist aus den mittlerweile erwachsenen Werbekindern geworden, die mit Onkel Dittmeyer gemeinsam vor der Werbefilmkamera standen? Wurden auch alle Mitarbeiter des Saftkonzerns überprüft? Wurde Onkel Dittmeyer etwa erpresst? Warum fing Dittmeyer an, sich in seiner Hamburger Villa zu verschanzen, wie im seriösen Tagesspiegel kürzlich zu lesen war?
Das alles muss lückenlos aufgeklärt werden, denn sonst werden Verschwörungstheorien wuchern wie Krebsgeschwüre, und Seiten wie die Wahrheit werden die Leser auf Jahre hinaus mit dubiosen Theorien verunsichern. Die zwangsläufige Forderung kann nur heißen: Tötet Onkel Dittmeyers Mörder!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies