die wahrheit: Streik der Mikroben
Olfaktorischer Elendspiegel: Seltsame Löcher verängstigen Hannover. Über Hannover torkelten die letzten Silvesterraketen durch den Sturm. Alfons Kepler achtete nicht darauf.
Sorgfältig prüfte der Abwasseringenieur den Verschluss seines säurefesten Schutzanzugs, öffnete die Stahltür und stieg hinab in die Tiefe.
Das Unglück hatte mit haarfeinen Rissen begonnen, die aderngleich über das Pflaster wucherten. Aus den Rissen wurde Spalten, aus den Spalten armdicke Wunden, bis der Asphalt ins Rutschen kam und die Hannoversche Allgemeine Zeitung am 16. Oktober das Erscheinen des ersten Loches vermeldete. Anwohner hatten das Blatt verständigt. Es sei so groß, gaben sie an, da könne ein Mann hineinfallen, was man niemandem wünschen mochte, denn dem Schlund entwich ein bestialischer Gestank. Geologen der Universität Clausthal untersuchten die Hohlräume, die sich im Dutzend vermehrten. Ohne Ergebnis. Die Löcher waren schwarz und bodenlos wie die Seele des Bankers Ackermann.
Die Dunkelheit umhüllte Kepler mittlerweile wie eine Rolle Teerpappe. Der Ingenieur nestelte an der Grubenlampe, die mühsam einen schmalen Lichtkanal durch die Finsternis schnitt. Als er endlich Grund unter den Sohlen hatte, stand er knietief in einer breiig saugenden Flüssigkeit. Grünkohlartiger Schorf verklebte die Wände, ihre fetttriefende Oberfläche schien unter dem Gwimmel der Mikroben zu leben. Tropfsteine aus Mehlschwitzen und Instantsoßen hingen von der Decke, während vor seinen Füßen eine Säule aus halbverdautem Gänseklein ragte. An ihrer Spitze hing ein kleiner Zettel. Kepler las und wurde blass. "Ahnte ichs doch", murmelte er und nahm beunruhigt zur Kenntnis, dass ihm die Kloake mittlerweile bis zu den Hüften reichte.
Kurz vor Weihnachten meldete die Allgemeine das Implodieren des Landtags. Er fiel, hieß es, wie ein Kartenhaus zusammen, purzelte die Böschung am Hohen Ufer hinab und wurde von einer riesigen Grube verschlungen. Samt dem Ministerpräsidenten, allen Ministern und Fraktionen. Schlimm, schlimm, dachten die Hannoveraner, doch anders als der Freitod des Torhüters Enke ein Verlust, der zu verschmerzen war.
Das änderte sich erst, als am letzten Samstag vor Heiligabend die AWD-Arena Opfer des seltsamen Phänomens wurde. Kurz nach der elendig vergeigten Partie gegen den VFL Bochum tat sich der Rasen auf und schluckte, wie angetrieben von einem unterirdischen Staubsauger, das Stadion und die 96-Geschäftsstelle. Es war, unkten manche, als wolle der zürnende Fußballgott ein für allemal aufräumen mit dem Gerumpel und Gestümpere, das hier seit Jahren zur Aufführung kam. In der folgenden Nacht verschwanden das Sprengel Museum, das neue Rathaus und der wuchtige Glaspalast der Nord LB. Dort, wo sie gestanden hatten, suppte eine übel riechende Brühe aus dem Erdreich und schwemmte in die Wohnbezirke.
Da hub ein schreckliches Heulen und Twittern an. Alles, was ein Mikrofon, eine Kamera oder wenigstens einen Kugelschreiber halten konnte, eilte in die Leinestadt, um die Welt über den olfaktorischen Elendspegel auf dem Laufenden zu halten. Und der überstieg bald den sprichwörtlichen Mief der Slums von Kalkutta. Die Menschen irrten verwirrt umher, während ZDF-Terrorexperte Elmar Thevesen ein vorgebliches Al-Qaida-Video präsentierte, dass aus einer jemenitischen Nasszelle stammen sollte und drohte, die westliche Welt einfach zuzuscheißen. Verteidigungsminister zu Gutenberg bot die Bombardierung des Beduinenstaates mit seinem exklusivem Rasierwasser an, der Bundestag schickte eine Traueradresse, und Kanzlerin Merkel wandelte auf Gerhard Schröders Spuren in Gummistiefeln durch das faulige Brack.
Zur selben Zeit taumelte der Ingenieur Alfons Kepler mit letzter Kraft durch die Stahltür zurück ins Klärwerk Süd. Triefend vor Schweiß und kotigem Auswurf, das Hämmern seines Herzschlags in den Ohren. Seine Kollegen betteten ihn auf eine Liege, kühlten ihn mit Eisbeuteln unter Achseln und Nacken und flößten ihm literweise Elektrolytlösung ein: Keplers Körpertemperatur war trotz des Schutzanzugs auf über 39 Grad Celsius gestiegen, sein Blutdruck hatte bedenkliche Werte erreicht. Erst nach knapp einer Stunde konnte er wieder sprechen. Aber Kepler sagte nichts, sondern hielt den Kollegen den Zettel hin, den er aus der Sickergrube geborgen hatte. Ihre Gesichter verwandelten sich in Grimassen des Grauens. "Was zuviel ist, ist zu viel", stand dort geschrieben. "Grünkohl mit Pinkel, Weihnachtsstollen, Mastgänse, Silvesterlachs und schlimme Schäpse, wir haben es satt und streiken. Eure Mikroorganismen." Ohne Zweifel, die Kacke war am Dampfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend