die wahrheit: Schluss mit Etepetete-Zensur
In den letzten Wochen wurde ich immer wieder aufgefordert, mich doch zum Rückzug von Google aus Festlandchina zu äußern. Dabei habe ich das schon längst getan...
Hier und an anderer Stelle. Aber Pressefreiheit bedeutet ja nicht nur, dass alle voneinander abschreiben und so Fehler oder schlichten Nonsens bis in alle Ewigkeit perpetuieren, sondern auch, dass Autoren selbst immer wieder denselben Artikel fabrizieren. Und deshalb hier noch einmal zum Merken: Nein, Googles Abzug hat in China praktisch nichts verändert. Ich google munter weiter auf google.com oder google.de, und wie vorher sind selbstverständlich ein paar der ergoogleten Links von der chinesischen Zensur gesperrt. Und ja, die meisten Chinesen interessieren sich für Googles Geste einen feuchten Kehricht, weil sie ihnen rein gar nichts bringt.
Im Westen aber wurde Googles Propagandacoup ordentlich gefeiert. Dabei berichtete man einmal mehr über die chinesische Bloggerszene, die der hiesigen Zensur ordentlich zu schaffen macht, aber auch dafür sorgt, dass viele Chinesen besser über den Westen informiert sind als die Westler über China. Natürlich war auch wieder vom Caonima die Rede, dem legendären Gras-Schlamm-Pferd, das seit Anfang des vergangenen Jahres zum Symbol des Widerstands der chinesischen Bloggerszene avanciert ist.
Nur warum ausgerechnet ein ausgedachtes Tier zum Anti-Zensur-Symbol wurde, und was sein Name genau bedeutet, davon schrieb die deutsche Presse nichts. Der Spiegel teilte mit, dass Caonima, "wenn man die Silben anders betont, auch ein grober Fluch sein kann", die FAZ weiß, dass "bei anderer Betonung eine wüste Schimpftirade daraus" wird, für die Wirtschaftswoche ist es schlicht ein "derbes Schimpfwort" und die Deutsche Welle berichtet vom "wüste[n] Mutterfluch cao ni ma, der hier aus Anstandsgründen unübersetzt bleibt" - und ist so wenigstens etwas näher dran.
Wer aber wirklich wissen will, was die zweite Bedeutung des Gras-Schlamm-Pferdes ist, der muss entweder Chinesisch können oder englischsprachige Medien zu Rate ziehen. Hier erfährt man endlich, dass das Pferdchen nur leicht anders betont "Fick deine Mutter" heißt. Es trägt seinen Doppelnamen auch nicht von ungefähr, denn kreiert wurde das Caonima Anfang 2009 im Widerstand gegen eine offizielle Anti-Internetpornografie-Kampagne. Deshalb lebt das "Fick deine Mutter"-Pferdchen auch zusammen mit den Wocaonima- und Kuangcaonima-Pferderassen ("Ich ficke deine Mutter" bzw. "Fick deine Mutter wie ein Irrer") in der Ma Le Gebi, der "Mahler Wüste", was wiederum wie "Mutters Fotze" klingt.
Ich habe keine Ahnung, ob die deutsche Presse solcherlei Eindeutigkeiten tatsächlich nur aus Anstandsgründen nicht hinschreiben mag. Vielleicht ist es ihr auch ein bisschen peinlich, dass die chinesische Free-Internet-Speech-Szene eben auch eine Free-Fickbildchen-Bewegung ist. Wie dem auch sei: Wer mit großen Worten die Zensur in China anprangert, sich aber selbst der Etepetete-Zensur unterwirft, kann eigentlich nach Hause gehen.
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