die wahrheit: Gefahrenstelle Kiss
Volker und ich haben ein in vielen Jahren gewohnheitsrechtlich gefestigtes Agreement.
Ich besorge die Freikarten, er fährt. "Kiss in Leipzig, biste dabei?", fragte ich ihn eine Woche zuvor. "Klar", sagte er. "Ich fahre!" Aber bei 45 Kilometern Stau auf der A2 kann jede noch so gut funktionierende, gedeihliche Win-win-Geschäftsverbindung einpacken. Eine Viertelstunde vor dem vereinbarten Abfahrtstermin rief er an. Er stehe hier seit einer halben Stunde, sei keine fünfzig Meter vorangekommen. "Ich habe auch schon so getan, als sei ich ein Zivilbulle, hat aber nichts gebracht!"
Er hatte seinen Teil der Abmachung gebrochen. Und ich noch zehn Minuten, um mir Ersatz zu besorgen. Also telefonierte ich meine Liste ab. Die ersten drei lachten mich aus. "Ist das dein Ernst? Kiiiiss?" Der Vierte war gerade auf dem Weg zu AC/DC. Dann fiel mir Frank ein, der Mann arbeitet bei Volkswagen, hat also immer Zeit. "Wann?" - "Jetzt sofort!" - "Klar!", sagte er. "Und?", fragte ich. "Was - und?" - "Schon gut, ich kann fahren."
Während ich meinen Sideman abholte, griff ich blind in den Jutebeutel mit den zwei Dutzend C 90ern von BASF. Das Manowar-Mixtape! Auweia. Es ist gar nicht so sehr die Musik, die ein Gefühl der Beklemmung hervorruft, sondern reiner, erfahrungsgesättigter Aberglaube. Immer wenn auf einer Überlandpartie Manowar läuft, geht irgendwas schief.
Diesmal übersahen wir die geladene Fotofix-Selbstschussanlage bei der forschen Einfahrt ins Leipziger Zentrum. Das heißt, wir übersahen sie eigentlich nicht. Frank rief sogar aufgebracht: "Ich glaube, hier ist fünfzig!" Aber meine Muskeln reagierten nicht - oder doch falsch. Ich trat noch einmal drauf, um "zügig die Gefahrenstelle zu verlassen", wie es schon im Fahrschulfragebogen weise heißt.
Und da war es wieder, dieses Gefühl aus frühester Kindheit, wenn man in der unteren Bauchregion mit untrüglicher Gewissheit spürt, dass der gerade abgefeuerte, vom Regen schwere Lederball das Panorama-Wohnzimmerfenster mittig treffen und dieses der brachialen Gewalt des Vollspann-Volley-Hammers nicht gewachsen sein wird. Die akustische Entsprechung dazu ist ein durch die Zähne gepresstes "Scheiiiii…ße!"
Sonst lief es aber glatt. Kiss waren 1a-maskiert; Gene Simmons machte eine lange Zunge und kotzte Blut; Ace Frehleys Ersatzmann Tommy Thayer schoss Raketen aus seiner Gitarre; Paul Stanley fuhr mit einer Seilbahn zur Mitte der Halle, um von dort auf einem Drehpodest "I Was Made For Loving You" zu intonieren; und Eric Singer war so dermaßen unterfordert, dass er sich mit einem Schlagstock immer mal wieder am Rücken kratzen konnte. Kurzum, es war wieder mal alles sehr schön.
Nur als mein Mitfahrer unbedingt den Advocatus Diaboli spielen musste und bei "Say Yeah", einem der drei neuen Stücke, lauthals bemerkte, dass auf dem aktuellen Album "Sonic Boom" mehr gute Songs seien als im gesamten Backkatalog der Band, da sagte mir ein Blick in die Gesichter der Umstehenden, dass es besser sei, die Gefahrenstelle jetzt zügig zu verlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!