die wahrheit: Der Geisterknochen
Neues aus Westfalen: Wie die Gemeinde Nottuln telefonieren lernte.
An einem typischen grauen und vernieselten 22. Augusttag im Jahre 1987 begab es sich, dass die grobschlächtigen und am ganzen Körper mit dichten, verfilzten Haaren bedeckten Bewohner des kleinen, verschlafenen Dörfchens Nottuln einmal unvermutet aus ihrem westfälischen Alltag gerissen wurden. Der Alltag der Nottulner besteht seit jeher darin, sich schon am Morgen das ortsübliche Fußpils - ein gewöhnungsbedürftiges Gebräu aus dem, was sich die Nottulner beim jährlichen Füßewaschen unter den langen, gelben Zehennägeln hervorschaben und monatelang in schwefeligem Brackwasser gären lassen -, sich schon morgens also das ortsübliche Fußpils gleich literweise in die quadratischen Köpfe zu schütten und einen Strohballen anzustarren, von dem die Legende geht, Nottulns Gründervater Theodor Hunsteger habe einmal, auf diesem Ballen ruhend, einen vernünftigen Gedanken gefasst, diesen aber sogleich wieder verworfen.
"Nottuln" bedeutet im älteren Sprachgebrauch ungefähr "Ort der etwas anderen Menschen und Tiere", und in der Tat gibt es allerhand seltsame Geschichten von diesem gottverlassenen Fleckchen zu erzählen, wie zum Beispiel die Geschichte des verzauberten Geisterknochens, die sich an besagtem 22. August des Jahres 1987 zutrug.
So war also schon ein guter Teil des Tages mit Fußpilstrinken und Strohballenanstarren vergangen - die Sonne schickte sich bereits zu dämmern an -, als plötzlich der Dorfweise Jupp Hoffschulte laut schreiend und wild mit den Armen fuchtelnd aus der Ferne den kleinen Feldweg entlanggelaufen kam - den einzigen Weg, der überhaupt nach Nottuln hinein- und wieder hinausführt -, als der Dorfweise diesen Weg also schreiend und gestikulierend entlanggelaufen kam, japsend und mit hochrotem Kopf, als wäre er dem Leibhaftigen persönlich begegnet. Jupp Hoffschulte hatte in dem benachbarten Örtchen Havixbeck, das eine richtige Schule vorweisen konnte, vor langer Zeit beinahe mal einen Schulabschluss geschafft und galt deshalb als weit gereister Mann von großer Bildung und genoss höchstes Ansehen unter den Nottulner Dorfbewohnern.
Diese Dorfbewohner hoben nun langsam ihre quadratischen Schädel, während sie sichtlich angestrengt überlegten, was um alle Strohballen der Welt den Dorfweisen denn nur so in Aufregung hatte versetzen können. Diese ungewohnte Tätigkeit des "Denkens" ermüdete die Nottulner allerdings in Sekundenschnelle so arg, dass sie allesamt schnarchend in ihre kotigen Koben fielen, noch ehe Jupp Hoffschulte den Marktplatz und den zugehörigen Tümpel, in dem das Fußpils faulig vor sich hin gärte, erreicht hatte.
Einzig der Nottulner Bürgermeister Josef Schalau, der sich seiner vollen Verantwortung für die Dorfgemeinde auf eine seltsame Art stets bewusst war, hatte noch den Willen und die Kraft, mühsam eines seiner zugeschwollenen Augenlider zu heben und dem aufgeregten Dorfweisen, der sich nun stammelnd unentwegt um sich selbst drehte, Gehör zu schenken.
Was aber Jupp Hoffschulte, der soeben abermals eine zweistündige Bildungsreise ins benachbarte Havixbeck unternommen hatte, was Jupp Hoffschulte also zu berichten hatte, versetzte den Bürgermeister in allerhöchste Alarmbereitschaft. Schnell war er auf den befellten Beinen, und er rannte so schnell zur Feuerglocke, um die restlichen Nottulner stürmisch wach zu läuten, dass ihm seine Gummistiefel um die Ohren flogen.
Nach nur einer Stunde hatten sich die Dorfbewohner um den Dorfweisen und den Bürgermeister versammelt und lauschten fassungslos Jupp Hoffschultes Erzählung vom verzauberten Geisterknochen, durch den man in Havixbeck mit unsichtbaren Menschen reden könne. Einen solchen verzauberten Geisterknochen wollten nun auch die Nottulner haben, doch der Dorfweise walkte sich nur ratlos das Kinn. Der Dorfpfarrer Huber aber glaubte, irgendwo gelesen zu haben, dass man zur Beschwörung verzauberter Geisterknochen Hühner bei lebendigem Leibe essen und mit zuckenden Gliedmaßen ein Feuer umtanzen müsse - der Geisterknochen würde sich dann sicher von selbst einstellen.
Begeistert warfen die klobigen Bürger unter lautem Jubel ihre Gummistiefel in die Höhe, die ihnen dann schmerzhaft auf die Quadratköpfe knallten. Nur die Nottulner Hühner verweigerten ihre Teilnahme an dem Fest. Schnell trugen die Bürger ihren gesamten Hausrat zum Marktplatz und zündeten ihn an. Alsbald loderte ein lustiges Feuer, und es dauerte auch nicht mehr lange, bis die Nottulner allesamt am Boden lagen und mit unsichtbaren Menschen sprachen. Und ein Schuft ist, wer diesen Umstand einzig dem übermäßigen Genuss des Fußpils zuschreiben will. Seither findet alljährlich am 22. August dieses Spektakel - das Nottulner Telefonieren - auf dem Marktplatz statt.
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