die wahrheit: Infantile Erdkundelehrer
"Best of Wahrheit"-Woche: Ein selbsternannter Humorexperte kritisiert eine Penis-Satire.
Im Jahr 2002 erschien auf der Wahrheit-Seite ein Text von Gerhard Henschel mit dem Titel "Sex-Schock! Penis kaputt?". Henschel schrieb darin über eine angebliche Penisverlängerung, die der "Bild"-Chefredakteur Kai Diekmann an sich hatte vornehmen lassen. Die Geschichte hatte eine enorme Resonanz, bis hin zu einem Prozess, den Diekmann gegen die taz anstrengte und der mit einem Punktsieg für die taz endete.
Inzwischen haben viele, durchaus auch merkwürdige Zeitgenossen die Wahrheit-Satire aufgegriffen - wie zum Beispiel ein Künstler, dessen Kunstwerk die Außenmauern des Berliner taz-Hauses eher mäßig ziert. Eigentlich ist alles gesagt über die Geschichte, aber im Rahmen der Best-of-Wahrheit-Woche darf die Penis-Story selbstverständlich nicht fehlen. Allerdings dürfen wir sie laut Gerichtsurteil nicht mehr veröffentlichen. Deshalb werden wir sie und ihre Wirkungsgeschichte hier an einem besonders eklatanten Beispiel wiederauferstehen lassen.
Uwe Wolff ist Kommunikationsberater. Er leitet die Berliner PR-Agentur NAIMA Strategic Legal Services GmbH, und er hat ein interessantes Buch geschrieben ("Medienarbeit für Rechtsanwälte. Ein Handbuch für die effektive Kanzlei-PR", Gabler, Wiesbaden 2010).
Darin klärt er seine Leser über eine Randerscheinung der modernen Presselandschaft auf: "Hat von Ihnen jemals irgendwer die ,Wahrheit'-Seite der taz gelesen? Nur die wenigsten kennen diese Seite. Muss man, ehrlich gesagt, auch nicht. Es soll eine Satireseite sein, auf der sich zumeist infantile Erdkundelehrer über etwas lustig machen, das gar nicht lustig ist. Meistens handelt sich um mäßige bis sehr schlechte Satire."
Man lernt und wächst. Doch so eifrig man auch lernen und so tüchtig man auch wachsen mag - das Leben stellt einen immer wieder vor Fragen, die sich nicht zufriedenstellend beantworten lassen. Wo könnte Wolff gehört oder gelesen haben, dass die Wahrheit-Seite eine Satireseite sein solle, auf der sich zumeist infantile Erdkundelehrer über etwas lustig machen, das gar nicht lustig ist? Es steht schließlich nirgendwo geschrieben, dass es so sein solle, außer natürlich in Wolffs eigenem Buch.
Und wie kommt er auf die Erdkundelehrer? Ob ihm wohl irgendwann einmal ein Erdkundelehrer ein Leid getan hat? Aber weshalb sollte daraus folgen, dass die Wahrheit-Seite von infantilen Erdkundelehrern vollgeschrieben werde? Und ob man nun Erdkunde unterrichtet oder einen ganz anderen Beruf ausübt: Warum sollte man sich nicht über etwas lustig machen, das an und für sich gar nicht lustig ist? Wie zum Beispiel Uwe Wolffs effektive Kanzlei-PR?
Fragen über Fragen: Worin mag nach Ansicht Wolffs der Unterschied zwischen mäßiger und sehr schlechter Satire bestehen? Und wie müsste, wenn es nach ihm ginge, eine gute Satire beschaffen sein? Das wüsste man natürlich gern, doch der Kommunikationsberater verrät es nicht. Seine Bewertungskriterien bleiben vollständig im Dunkeln, und man muss sich vorläufig mit der Information bescheiden, dass er grundsätzlich die Autorschaft von Erdkundelehrern missbilligt.
Weiter im Text: "Einer dieser taz-Infantilisten, Autor Gerhard Henschel, hatte am 8. Mai 2002 auf der Satireseite der Zeitung von Gerüchten über eine missglückte Operation des Bild-Chefredakteurs Kai Diekmann in einer Spezialklinik in Miami geschrieben. Das ist ja an sich schon ziemlich grauenhaft und schlecht, aber noch schlimmer wurde es durch die Reaktion des Bild-Chefredakteurs."
Denn: "Diekmann schickte seine Anwälte los und klagte gegen die taz. Was für ein Fehler. Ähnlich wie im Fall Markwort erfuhr nun eine breite Öffentlichkeit von der Angelegenheit, die ohne Dieckmanns [sic] Klage gegen die taz nicht einmal ansatzweise Ausbreitung gefunden hätte." Ende des Zitats.
Den Anlass jener Satire teilt Wolff seinen Lesern nicht mit: Die Bild-Zeitung hatte zuvor auf Seite 1 unter den Schlagzeilen "Sex-Schock - Baby verloren - Sorge um Frau des Botschafters - Wird sie nie wieder glücklich?" des Breiten über die Fehlgeburt einer Prominenten berichtet und dazu ein Foto von ihr veröffentlicht, auf dem zu sehen war, wie sie weinte.
Für seine Einschätzung, dass die Kai Diekmann deswegen gewidmete Satire "ja an sich schon ziemlich grauenhaft und schlecht" sei, gibt Wolff keine Gründe an. Sofern die Leser seines Buchs die Wahrheit-Seite tatsächlich nicht kennen sollten, müssen sie annehmen, dass damals einer "dieser taz-Infantilisten" einfach irgendwelchen hanebüchenen Unsinn in die Welt gesetzt habe, aus Jux und Dollerei und nicht etwa aus Abneigung gegen das publizistische Ausschlachten einer Fehlgeburt.
Wollte man nun mit gleichen Mitteln zurückschlagen, so könnte man sagen: "Hat von Ihnen jemals irgendwer das Buch von Uwe Wolff gelesen? Nur die wenigsten kennen es. Muss man, ehrlich gesagt, auch nicht. Es soll ein Handbuch für Rechtsanwälte sein, in dem ein infantiler Kommunikationsberater über etwas schreibt, wovon er nichts versteht …"
Schöner aber ist es, frei nach Brecht zu bilanzieren: Der Kommunikationsberater gibt sein Handbuch uns zu lesen. / Was er da spricht, ist mäßig bis sehr schlecht gesprochen. / Was er verschweigt: die Wahrheit wärs gewesen. / Ich sag: Der Wolff ist blind und nicht bestochen.
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