die stimme der kritik: Betr.: Komplexe Sozialreform
Luhmann und das dumme Volk
Die wichtigsten Dinge im Leben drehen sich um Geld, Macht und Liebe, hatte der junge Niklas Luhmann einmal gesagt. Das war lange vor der Rentenreform. Später wurden die Dinge schwierig.
Rentenminister Riester schuf die „modifizierte Nettolohnanpassung“, den „Ausgleichsfaktor“, das „Rentensplitting“ und einen „Anspruch auf betriebliche Altersversorgung durch Entgeltumwandlung“. Wahrscheinlich hatte Riester zuvor den reiferen Luhmann gelesen: „Die spezifisch politische Funktion wird auf der Ebene konkreter Interaktion dadurch erfüllt, dass diesen Entscheidungen bindende Wirkung verschafft wird.“
Bindende Wirkung also. Irgendwann mal musste sie sein, die neue Ausdifferenzierung der Systeme, doch damit allein ist die Sache eben nicht geritzt. „Wichtigste Bedingungen der Stabilisierung eines ausdifferenzierten, funktional spezifizierten Systems“, so wusste Luhmann, „ist die Erhaltung seiner eigenen Komplexität auf einem Niveau, das dem seiner gesellschaftlichen Umwelt entspricht.“ Das Niveau der Umwelt! Es kam in Gestalt von CSU-Vize und Exgesundheitsminister Horst Seehofer.
Er findet die Rentenreform zu „kompliziert“. Und was den Menschen nicht erklärt werden könne, müsse „zwangsläufig scheitern“. Zu kompliziert! Das sind Sätze, die heimlich Geschichte machen: Doofheit vor Politik!
Vielleicht sind auch die nächsten Stufen der Steuerreform zu komplex, vielleicht ist überhaupt die Finanzwirtschaft zu komplex, ja, ist nicht die Weltwirtschaft zu komplex für das Volk? Kurz gefragt: Scheitert die Weltwirtschaft daran, dass sie keiner mehr versteht? Wäre vielleicht auch ganz schön.
Angeblich leben wir im 21. Jahrhundert in einer Wissensgesellschaft. Und da hat die politische Elite klar erkannt: Wenn das Volk zu doof ist für die Rentenreform, hat es auch keine verdient. Jawoll.
Weg mit dem Primat der Wirtschaft, her mit dem Primat der Einfalt über die Politik. Irgendeiner musste mal das neue Primatentum ausrufen.
Luhmann hatte übrigens auch das schon vorausgesehen: „Ganz allgemein gesehen kann die Komplexität eines Systems nicht größer sein als seine Fähigkeit, Komplexität zu reduzieren.“ Leider ist Luhmann nicht mehr da. Aber dafür haben wir jetzt ja Horst Seehofer.
BARBARA DRIBBUSCH
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