der leitartikel: Deutschland muss Israel angesichts des Gazakriegs mit Sanktionen drohen
Von Stefan Reinecke
Die deutsche Nahostpolitik bewegt sich seit Jahrzehnten in den gleichen Bahnen. Deutschland versorgt Israel mit Waffen und politischem Schutz – und Palästina mit Geld. Dieser Doppelkurs, der immer zwischen Pragmatismus und Bigotterie schillerte, ist am Ende. Angesichts der Radikalisierung des Gazakriegs und der massiven Vertreibungen im Westjordanland durch jüdische Siedler wird diese Haltung zur Realpolitik im Stadium des Irrealen. Man klammert sich an Gewissheiten, die mit jedem verjagten Palästinenser im Westjordanland und jedem toten Zivilisten in Gaza pulverisiert werden.
Stefan Reinecke
ist taz-Autor im Parlamentsbüro mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
In Deutschland beruft man sich mit zerfurchter Stirn auf die NS-Geschichte, die Pflichten mit sich bringe. Man könne nicht anders. In mutigen Momenten fordert Kanzler Friedrich Merz den israelischen Premier Benjamin Netanjahu dazu auf, angesichts der von Israel inszenierten Hungersnot in Gaza Hilfslieferungen zu erlauben. Das macht in Jerusalem gewiss Eindruck.
Die israelische Armee begeht Kriegsverbrechen. Sie hat Tausende von Unschuldigen getötet – und wird das jetzt mit noch mehr Feuerkraft, Bomben, Toten fortsetzen. Netanjahu hat den Waffenstillstand gebrochen. Das Ziel ist nicht mehr, die Hamas auszuradieren. Das Ziel ist, „Gaza vollständig zu zerstören“, so der rechtsradikale Finanzminister Bezalel Smotrich. Die Netanjahu-Regierung will den Palästinensern das Leben zur Hölle machen und Hunderttausende zur Flucht zwingen. Israel arbeitet unverblümt an einer ethnischen Säuberung. Was muss noch passieren, ehe man im Kanzleramt begreift, dass es nicht mehr reicht, sich nur „besorgt“ wegen des Sterbens in Gaza zu zeigen?
Verpflichtet die NS-Geschichte wirklich dazu, wie es Steinmeier tat, Netanjahu lächelnd die Hand zu drücken und ihn, wie Merz es tun will, wider internationales Recht, nach Berlin einzuladen? Verpflichtet die NS-Geschichte dazu, in der EU alle Versuche zu bekämpfen, Israel sanft unter Druck zu setzen? Dazu, einer Armee Waffen zu liefern, die Verbrechen in einem mittlerweile illegitimen Krieg begeht, der die nächste Gewalteskalation wahrscheinlicher und alles schlimmer macht?
Israel ist dabei, sich von einem zionistischen in einen nationalreligiösen Staat zu verwandeln. Die oft beschworene Freundschaft mit Israel bedeutet nicht, diesen (selbst)zerstörerischen Trip mit mahnenden, aber verlässlich folgenlosen Worten zu begleiten. Denn dieser maßlose Krieg korrumpiert auch die militärisch weit überlegene Macht. Der Gazakrieg frisst sich wie Rost in die israelische Demokratie. Er brutalisiert die Gesellschaft. Eines der wenigen hoffnungsvollen Zeichen ist, dass sich Reservisten weigern, in Gaza zu kämpfen – zu wenige, aber immerhin. Es ist ein Indiz, dass es in der vor lauter Gewalt taumelnden Gesellschaft noch moralische Ressourcen gibt. Freundschaft bedeutet angesichts dieses blutigen Desasters, mit Augenmaß Druck aufzubauen. Es bewegt sich etwas im Westen – spät und langsam. Europa ist Israels wichtigster Handelspartner, die EU will nun das Assoziierungsabkommen überprüfen. Brüssel zeigt Netanjahu damit die Instrumente. Auch wenn offen ist, ob sie zum Einsatz kommen. Dies ist mehr als der unverbindliche Appell in Richtung Israel, auf den man sich in Berlin verständigt hat – es ist eine Drohung. Auch Frankreich, Großbritannien und Kanada stellen, ähnlich wie die EU, Taten in Aussicht. Wenn Israel den „völlig unverhältnismäßigen“ Krieg in Gaza nicht stoppe, werde man zu „gezielten Sanktionen“ greifen. Sogar der britische Premier Keir Starmer hat das unterschrieben. Merz nicht.
Berlin hat die Wahl: Wenn Israel den Krieg mit Hunger und Bomben fortsetzt, dann kann, dann muss auch die Bundesregierung eindeutig reagieren. Also keine Waffenlieferungen mehr, kein privilegierter Handel mit der EU, Anerkennung Palästinas. Damit würde man der demokratischen Opposition in Israel signalisieren: Wir unterstützen euch. Womöglich könnte dies sogar den Kräften in der Netanjahu-Regierung, die nicht rechtsextrem sind, innenpolitisch eine Brücke bauen: Man hätte den Krieg ja fortgesetzt, aber leider waren die internationalen Kosten zu hoch.
Sanktionen sind kein Zauberstab. Aber in diesem Fall sind konditionierte Drohungen weit erfolgversprechender als die achselzuckende Ratlosigkeit, die lauen Appelle, die müden Verweise auf die deutsche Staatsräson. Die Alternative ist, dass Merz an der Seite der „Lichtgestalten“ Donald Trump, Viktor Orbán und Javier Milei zur schrumpfenden Schar der bedingungslosen Unterstützer Israels zählt. Wenn das die Conclusio der Vergangenheitsbewältigung ist, auf die man hierzulande so stolz ist – dann ist etwas fundamental falsch gelaufen.
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