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debatteKeine Kompromisse mehr

Die geplatzte Richterinnenwahl zeigt: Ein relevanter Teil der Union ist dabei, sich von der Mitte zu verabschieden. Die SPD sollte nicht auf Merz vertrauen

Nach gerade einmal zwei Monaten schwarz-roter Koalition weiß die SPD, dass sie sich auf Zusagen der Union nicht verlassen kann. Die zuerst versprochene, dann doch verhinderte Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zur Richterin am Bundesverfassungsgericht ist vor allem als Ausweis von schlechtem politischem Handwerk gedeutet worden. Schuld darin sollen wahlweise Jens Spahn, die Justiziare der CDU/CSU-Bundestagsfraktion oder zu wenig kompromissbereite Sozialdemokraten sein – aber allenfalls ein bisschen Bundes(außen)kanzler Friedrich Merz. All das ist nicht falsch. Aber es greift zu kurz.

Zum dritten Mal binnen eines Jahres drängt sich der Eindruck auf, dass ein relevanter Teil der Union Kompromisse mit der linken Mitte des politischen Spektrums schlicht nicht will. Die im Nachhinein ebenfalls von vielen als „Unfall“ analysierte gemeinsame Abstimmung mit der AfD zum „Zustrombegrenzungsgesetz“ im Februar, die fehlenden Stimmen bei der Kanzlerwahl im Mai, nun die verweigerte Zustimmung zu einer gemeinsam von der Koalition vorgeschlagenen Richterin – alle drei Ereignisse zeigen: Wird auf X, bei Nius und in der AfD nur laut genug der Alarm gemacht, dann pfeifen hinreichend viele Christdemokraten auf Koalitionsdisziplin und parlamentarische Tradition.

Vielleicht ist es deshalb gar nicht das schlechte Handwerk von Jens Spahn, das jetzt zu diesem Scheitern geführt hat? Angenommen, Spahn hat wirklich für die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf geworben. Und er ist schlicht an Dutzenden MdBs und Andreas-Rödder-Rechtsintellektuellen-Fans gescheitert? Dass auch einige überzeugte Katholikinnen und Katholiken in der Union Brosius-Gersdorf wegen deren Schriften zur Menschenwürde von Föten nicht wählen wollten, hat die Zahl der „Abweichler“ im konkreten Fall noch einmal vergrößert. Aus Rechts-außen-Perspektive sind diese Abgeordneten aber nicht mehr als „Beifang“. Den Hardcore-Rechten hingegen geht es nicht um Lebensschutz, nicht mal um eine zu linke Richterin – sondern um die Institution des Bundesverfassungsgerichts als solche. Diese Institution soll politisiert und damit diskreditiert werden.

Dieser relevante Teil der Union will die „Letzte Chance“ der politischen Mitte (Robin Alexander) gar nicht nutzen. Diese Menschen wollen etwas Anderes. Wie genau dieses „Andere“ aussieht, wissen sie vielleicht selbst nicht. Aber irgendwie rechtsoffen, anti-„woke-links“ und ein bisschen kulturkämpferisch – das soll es sicher sein. Die Linke Heidi Reichinnek hat beim Recycling ihres „Auf die Barrikaden“-Auftritts im Bundestag vielleicht übertrieben, als sie eine nahende schwarz-blaue Koalition an die Wand malte. Aber es gibt sicher Menschen in der Union, die genau das wollen. Es wäre naiv zu glauben, dass die Untergrundströmungen im konservativen Lager einfach abreißen. Nach der Zufallsmehrheit mit der AfD in Sachen Zuwanderung hat die Union in den Koalitionsverhandlungen angeblich gelobt, dass so etwas nie wieder vorkommen werde. Im Fall Brosius-Gersdorf hat die Partei von Friedrich Merz zwar nicht die Hand mit den Rechten gehoben – aber eine nennenswerte Minderheit doch gemeinsam mit der AfD für eine negative Veto-Mehrheit gesorgt.

Das Erpressungspotenzial ist also da, und zwar in fast jeder beliebigen politischen Frage. Und die Versuchung wird für viele in der Union zu groß sein, um dieses Potenzial nicht wieder und wieder zu nutzen. Disziplinierungsmacht in den eigenen Reihen hätte in dieser Frage vermutlich nur Friedrich Merz. Obwohl er mit seiner Rhetorik gegen Zuwanderer einem ideologischen Vorkämpfer der rechtskonservativen Wende glich – Merz ist in Habitus, Haltung und Wertekompass dennoch ein Kind der alten Bonner Bundesrepublik. Er will die AfD nicht; er lehnt sie ab. Die Frage ist, ob er nicht irgendwann aus Druck oder Opportunismus den Kulturkämpfern auch in seiner Partei nachgeben wird.

Martin Teigeler

Jahrgang 1974, ist freier Journalist, unter anderem für den WDR und den Deutschlandfunk. Von 2003 bis 2007 hat er als taz-Redakteur gearbeitet.

Die SPD sollte nicht darauf vertrauen, dass Merz qua Amtsautorität die Brandmauer aufrecht hält. Die geschwächten, aber als staatstragende Regierungspartei mittlerweile fast alternativlosen Sozialdemokraten müssen sich angesichts des Rechtsrucks auf den Wahlkampf vorbereiten, der kommen wird – nach Lage der Dinge eher früher als in erst knapp vier Jahren.

In diesem nächsten Bundestagswahlkampf werden es SPD, Grüne und Linke mit einer Union zu tun bekommen, die irgendwo noch in der Mitte verharrt und sich mit Blick auf eine Post-Merz-Ära vermutlich alle Optionen offenhalten wird. Lars Klingbeil, der abgestrafte Parteichef und Mann an Merz’Seite, wäre dabei kaum der passende Kanzlerkandidat.

Die neue Schlachtaufstellung sollte die SPD schon jetzt deutlich machen: Einerseits zur staatspolitischen Verantwortung und der Koalition stehen – und andererseits in inhaltlichen Fragen „hart spielen“. Und vor allem immer wieder klarmachen, wenn die Union auf Erpressung durch negative Mehrheiten von rechts setzt. Im Fall Brosius-Gersdorf heißt das: Die Richterin jetzt zurückzuziehen, würde heißen, dieser Erpressung nachzugeben. Richtig wäre das Gegenteil: Zur Kandidatin stehen – und „auf die Barrikaden“ rufen, wenn die Union stur bleibt.

Frauke Brosius-Gersdorf jetzt zurückzuziehen, würde für die SPD heißen, einer Erpressung nachzugeben

Das wird nicht ohne Widerspruch bleiben: Die SPD schüre zu Unrecht die Angst vor Weimarer Verhältnissen, ihr falle immer nur Otto Wels als der „letzte Mann“ ein – die Argumente von politischen Gegnern und Hauptstadtjournalismus kann man sich ausmalen.

Aber das ist immer noch besser, als irgendwann von einem Koalitionsbruch und einem Wahlkampf überrascht zu werden, in dem die Sozialdemokraten mal wieder honorig irgendwas zu Respekt, Rente und Mindestlohn plakatieren – und im Lärm zwischen rechten Kulturkämpfern und linken Antifa-Parolen ungehört untergehen.

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