Annektierte Halbinsel Krim: Quelle neuen Unrechts
Die russische Besetzung der ukrainischen Krim seit 2014 wird von der Weltgemeinschaft achselzuckend hingenommen. Eine Anerkennung hätte fatale Folgen.

I n letzter Zeit ist immer häufiger die Meinung zu hören, dass Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine beenden würde, wenn man ihm alle von Russland annektierten ukrainischen Gebiete überlassen würde. Sogar US-Präsident Donald Trump und sein Umfeld haben bereits mehrfach Signale gesendet, dass die annektierte Krim als russisches Gebiet anerkannt werden könnte. Als Argument dafür wird nicht nur die Absicht angeführt, den russischen Präsidenten auf diese Weise zum Kriegsende zu bewegen, sondern auch russische Propaganda wird übernommen: Die Krim sei schon immer russisch gewesen, dort habe ein Referendum stattgefunden, und dort werde schon immer Russisch gesprochen.
All dies ist jedoch eine Illusion und Wunschdenken. Zudem birgt es die Gefahr, sich mitschuldig zu machen. Die Anerkennung der Krim als russisches Gebiet würde einen Völkerrechtsbruch legalisieren. In moralischer Hinsicht wäre ein solcher Schritt noch schwerwiegender, denn er würde nicht nur Gleichgültigkeit gegenüber dem begangenen Unrecht bedeuten, sondern auch die Beteiligung daran. Straflosigkeit bei Völkerrechtsbrüchen missachtet nicht nur das geltende Recht, sondern ermutigt auch zu neuen Völkerrechtsbrüchen.
Hinter der bewaffneten Eroberung und Besetzung ukrainischer Gebiete durch Russland stehen auch Jahre der Unterdrückung, Gewalt und Terror. Das Ausmaß dieser Verbrechen ist der internationalen Gemeinschaft erst in den letzten drei Jahren bewusst geworden. Tatsächlich dauert das Unrecht auf der Krim jedoch seit 2014 an. Die Besatzungsbehörden auf der Krim verletzen die Menschenrechte der Bevölkerung systematisch: Unerwünschte Personen werden willkürlich festgenommen, manche gar gefoltert.
Junge Männer werden für den Dienst in der russischen Armee mobilisiert. Zugleich versuchen die Besatzer, die ethnische Zusammensetzung der Halbinsel gezielt zu verändern, um die ukrainische und krimtatarische Identität auszulöschen. Dies geschieht durch gewaltsame Vertreibungen von Teilen der Bevölkerung und die gezielte Ansiedlung russischer Staatsbürger. Zu den größten Opfern der Besetzung der Krim gehören die Krimtataren, das indigene Volk der Krim.
Von den 195 politischen Gefangenen aus der Krim, die sich in russischen Gefängnissen befinden, sind 115 Krimtataren. Russische Spezialeinheiten verhafteten sie unter dem Vorwurf des „Extremismus“. Das indigene Volk der Krim leidet unter religiöser Verfolgung durch die russische Besatzung. Sein Selbstverwaltungsorgan, der Medschlis, wurde von Russland als extremistisch eingestuft und verboten. Schulen mit Krimtatarisch als Unterrichtssprache sind nur dort erlaubt, wo die Schulleitung loyal gegenüber der Besatzungsmacht ist. Unter dem Vorwand der „Restaurierung“ werden Kulturdenkmäler zerstört.
Diesen Sonntag gedachte die Ukraine der Opfer der Deportation des krimtatarischen Volks, die 1944 durch die sowjetischen Behörden auf der Halbinsel verübt wurde und als Völkermord einzustufen ist. Innerhalb weniger Tage wurden über 180.000 Krimtataren gewaltsam aus ihrer Heimat vertrieben. Hunderte starben während des wochenlangen Transports in Güterwagen ohne Wasser und Nahrung. Zehntausende starben in den ersten Jahren der Verbannung – vor allem nach Usbekistan – an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten. Nach unterschiedlichen Schätzungen starben bis zur Hälfte aller Krimtataren an den Folgen der Deportation.

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Die Deportation der Krimtataren wurde damals offiziell damit begründet, dass sie mit den deutschen Besatzern kollaboriert hätten – eine Kollektivstrafe. Eine ähnliche Taktik verfolgte Russland, als Wladimir Putin im Jahr 2022 die vollständige Invasion der Ukraine mit der Absicht rechtfertigte, das Land zu „entnazifizieren und entmilitarisieren“, und die Ukrainer des Neonazismus bezichtigte.
Russland, das sich selbst als Nachfolgestaat der UdSSR ansieht, wiederholt die Verbrechen der sowjetischen Herrschaft in den besetzten Gebieten der Ukraine. Das gilt auch für die Krim, wo angeblich 96 Prozent der Bevölkerung in einem Pseudoreferendum die Annexion der Halbinsel durch Russland befürwortet haben sollen. Aus der heutigen Perspektive wird immer deutlicher, wie dreist die russische Propaganda gewesen ist. Doch vor elf Jahren glaubten noch viele Menschen die Lügen des Kremls über die Annexion der Krim. Umso schmerzhafter war für die Bevölkerungsteile, die gegen die russische Besetzung waren, die lasche Reaktion der Weltgemeinschaft auf den eklatanten Völkerrechtsbruch Russlands.
Mittäterschaft durch Zustimmung
Wenn jemand die Krim als russisch anerkennen sollte, stimmt er all dem zu. Das ist Mittäterschaft – Mittäterschaft an der moralischen und physischen Vernichtung von Menschen. Die Krim ist kein abstraktes Gebiet, sondern dahinter stehen konkrete Menschen. Die Besetzung ist keine Übergabe eines Gebiets von einem Staat an einen anderen, sondern ein Völkerrechtsbruch. Genau diese Menschen werden zu Geiseln, und der Völkerrechtsbruch bleibt ungestraft, sobald die Welt „müde“ wird und von „de facto russisch“ spricht.
Die russische Besetzung der Krim ist nicht nur ein Akt der bewaffneten Aggression. Sie ist auch die Quelle weiteren Unrechts. Denn von der Krim aus führt Russland Raketen- und Drohnenangriffe auf die Ukraine durch. Von der Krim aus mobilisiert Russland Soldaten für den Krieg gegen die Ukraine. Die Krim war der Beginn des Kriegs und der Straflosigkeit für Putin.
Wer die Krim als russisch anerkennt, erkennt Macht statt Recht an. Und öffnet die Tür für neue, ähnliche Völkerrechtsbrüche, die sich immer wieder wiederholen würden. Eine solche Anerkennung ist Verrat. Verrat am Völkerrecht. Verrat an der Erinnerung. Und Verrat an all jenen, die für Gerechtigkeit gestorben sind oder ihre Freiheit verloren haben.
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