Sicherheitslage in Europa: Wettrüsten verhindern
Dass Deutschland und die EU aufrüsten wollen, ist verständlich. Doch sie nicht mit Rüstungskontrolle zu verbinden, könnte gefährlich werden.

D eutschland und Europa rüsten massiv auf. Das ist angesichts der Verschlechterung der Sicherheitslage in Europa durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und der erratischen Politik der Trump-Administration nachvollziehbar. Zwar geben die europäischen Nato-Mitglieder auch ohne die USA bereits jetzt schon mehr Geld fürs Militär aus als Russland.
Aber das heißt nicht zwangsläufig, dass sie deshalb auch alle Fähigkeiten besitzen, um Russland effektiv abzuschrecken. Bei Aufklärung, Kommunikation, Luftabwehr und noch einigen weiteren Bereichen gibt es, trotz des vielen Geldes, das seit Jahren ins Militär gesteckt wird, Schwachstellen.
Wer jedoch denkt, dass mehr Rüstung automatisch auch mehr Sicherheit bringt, unterliegt einem Trugschluss. Denn Aufrüstung kostet nicht nur Ressourcen, die anderswo fehlen. Die Gegenseite, in diesem Fall Russland, rüstet ja auch weiter auf, und so entsteht ein gefährliches Wettrüsten. Gefährlich deshalb, weil ungebremste Aufrüstung die Stabilität der Abschreckung untergraben kann.
ist Senior Researcher am Bonn International Centre for Conflict Studies (bicc). Er forscht dort unter anderem zu Rüstungsexporten, Rüstungskontrolle und dem Wandel der Kriegsführung.
Im Kalten Krieg bewährt
Wenn etwa ein technologischer Durchbruch durch ein neues Waffensystem einer Seite entscheidende Vorteile verschaffen kann, entstehen Anreize für die andere Seite, den Konflikt militärisch zu eskalieren, bevor diese Vorteile wirksam werden.
Außerdem wächst das Schadenspotenzial auf allen Seiten durch die quantitative und qualitative Hochrüstung – und damit auch das Leid und die Zerstörung im Falle eines Versagens der Abschreckung. So ist es naheliegend, dass das bereits jetzt konventionell unterlegene Russland auf die konventionelle Aufrüstung der europäischen Nato-Staaten mit noch mehr nuklearer Rüstung reagieren wird.
Doch nun die gute Nachricht: Mit dem Konzept der Rüstungskontrolle gibt es ein bewährtes Mittel, um diese Risiken einzuhegen. Rüstungskontrolle ist nicht gleich Abrüstung. Die Beteiligten verständigen sich auf wechselseitige Begrenzungen im Hinblick auf Qualität und/oder Quantität von Waffensystemen, um ungewollte Eskalation zu vermeiden, Zerstörungskraft zu reduzieren und Kosten zu senken.
Im Kalten Krieg konnten die USA und die Sowjetunion diese drei Ziele mithilfe von Rüstungskontrollabkommen erreichen; beispielsweise bei Nuklearwaffen und der Raketenabwehr. Nach einer letzten Hochphase in den 1990er Jahren, unter anderem mit der Einigung auf Obergrenzen für die Anzahl schwerer Waffensysteme in Europa, sind viele Rüstungskontrollregime zusammengebrochen.
Vertrauen ist keine Voraussetzung
Die Befürworter unbegrenzter Aufrüstung werden einwenden, dass Rüstungskontrolle mit Putin nicht funktioniert. Wie soll man jemandem vertrauen, der das Völkerrecht derart mit Füßen tritt? Aber Rüstungskontrolle ist nicht das Ergebnis von Verhandlungen mit einem Partner, dem man vertraut, oder gar eine Garantie gegen Vertragsbruch.
Rüstungskontrolle ist ein Instrument, das Grenzen für bestimmte Waffen definiert und durch Verifikationsmechanismen (zum Beispiel Inspektionen) hilft zu überprüfen, ob sich alle daran halten. Vertragsverletzungen können so leichter entdeckt werden und es besteht jederzeit die Möglichkeit, mit eigenen Rüstungsanstrengungen zu reagieren.
Das Risiko, von unerwarteten Rüstungsentwicklungen überrumpelt zu werden, sinkt durch bessere Informationen. Im besten Fall kann sogar verlorengegangenes Vertrauen langsam und schrittweise wieder aufgebaut werden.
Das ist keine graue Theorie. Genau so hat Rüstungskontrolle im Kalten Krieg funktioniert. Auch dort haben mit den USA und der Sowjetunion keine Freunde, sondern misstrauische Gegner Rüstungskontrollvereinbarungen geschlossen, um ihre Sicherheitsbeziehung zu stabilisieren. Denn sie hatten nicht nur konfligierende, sondern auch gemeinsame Interessen; allen voran die Verhinderung eines Nuklearkriegs.
Heutige Sicherheitslage komplzierter als im Kalten Krieg
Das kann man nicht eins zu eins auf heute übertragen. Die globale Machtkonstellation ist mit dem Zusammenbruch der bipolaren Ordnung des Kalten Krieges und dem sich vor unseren Augen vollziehenden teilweisen Rückzugs der USA aus Europa komplizierter geworden. Was, wenn Russland gar kein Interesse an einer Begrenzung der eigenen Rüstungsbemühungen hat, weil es plant, nach einer für Russland vorteilhaften Beendigung des Kriegs in der Ukraine als nächstes die baltischen Staaten anzugreifen?
Ob das tatsächlich so ist, wissen wir nicht. Aber wir sollten diese Befürchtung ernst nehmen. Sollte Russland ganz bewusst den Krieg gegen Nato- und EU-Mitgliedstaaten suchen, gäbe es in der Tat keine gemeinsame Interessenbasis für Rüstungskontrolle. In einer Situation der Unklarheit bezüglich der russischen Intentionen ist es ratsam, zunächst auf Abschreckung zu setzen.
Und gleichzeitig spricht genau diese Unklarheit dafür, die Abschreckung mit einer passenden Strategie der Rüstungskontrolle zu flankieren. So lassen sich nicht nur die Rüstungsrisiken einhegen, sondern gleichzeitig auch Russlands Intentionen prüfen.
Ein guter Einstieg wäre ein Angebot für ein Rüstungskontrollabkommen für Mittelstreckenraketen in Europa, gekoppelt mit einer Begrenzung konventioneller Waffensysteme. Das könnte die Krisenstabilität in Europa erhöhen und alle sicherer machen.
Rüstungskontrolle ist also weder naiv noch ein Einknicken vor Putin. Wenn wir es richtig angehen, ist sie ein Instrument kluger Politik im Angesicht von Ungewissheit. Wir sollten die alten Rüstungskontrollkonzepte aus der Mottenkiste holen, sie entstauben und an die neue sicherheitspolitische Situation anpassen. Auf konzeptioneller Ebene ist das primär Aufgabe der Wissenschaft (sowohl der Friedens- und Konfliktforschung, als auch der Strategic Studies). Für die Politik bedeutet es, Bereitschaft zu signalisieren, Aufrüstung durch Rüstungskontrolle zu ergänzen.
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