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debatteLeben ist Leben.Oder?

Wenn wir freie Intensivbetten haben, warum fliegen wir dann nicht kranke ItalienerInnen ein? Ein moralphilosophischer Zwischenruf

Bernward Gesang

ist Professor für Philosophie und Wirtschaftsethik an der Universität Mannheim. Sein neuestes Buch „Mit kühlem Kopf. Vom Nutzen der Philosophie für die Klimadebatte“ erscheint im Herbst im Hanser Verlag.

Aus Italien erreichen uns erschütternde Bilder: Patienten werden „triagiert“, also nach behandelbar und sowieso zum Tode verurteilt unterschieden, wobei die Letzteren dann sterben gelassen werden. Erschütternd ist: Diese Patienten müssten nicht sterben, wenn sie entsprechend intensivmedizinisch betreut würden, wozu Italien die Kapazitäten fehlen.

Gleichzeitig wird in Deutschland die Kapazitätsfrage beruhigend beantwortet: So erklärt Professor Reinhard Busse, Gesundheitswissenschaftler an der Technischen Universität Berlin: „Insgesamt haben wir in Deutschland etwa 27.000 bis 28.000 Intensivbetten. Das sind im Vergleich zu Italien bezogen auf 1.000 Einwohner zweieinhalbmal so viele. Wir kommen mit unseren Kapazitäten also gut hin. Auch die italienischen Verhältnisse würden uns nicht überlasten.“

Beruhigend, nicht wahr? Aber nicht für den Moralphilosophen. Der muss ständig damit aufräumen, dass Moral sich nur auf die erstreckt, die uns „near and dear“ sind. Jedenfalls zeigt die Geschichte, dass der Bereich der moralisch zu Berücksichtigenden immer größer wird: von den Mitgliedern der eigenen Sippe zu den männlichen Bürgern Athens, zu allen Griechen, dann seit der Französischen Revolution zu allen Menschen.

Die Gründe dafür sind klar: Erstens ist es reiner Zufall, wann und wo jemand geboren wird. Rechte sollten nicht an solchen Zufällen hängen. Zweitens: Rechte hängen an den Eigenschaften, Schmerz zu empfinden und Wohlergehen erfahren zu wollen, also an den Bedürfnissen. Empfindungslose Dinge kann man nicht schädigen. Es liegt ihnen nichts an ihrer Existenz oder Unversehrtheit. Mit der Empfindungsfähigkeit beginnen alle Interessen. Gleiche Interessen muss man gleich behandeln, sonst handelt man sich Widersprüche ein, wenn wir keine relevanten Unterschiede zwischen ihnen benennen können.

Italiener, Chinesen und Deutsche sind Menschen, die schon seit der Französischen Revolution erst einmal gleich zählen und gleichen Wert haben. Das ist Grundlage der Menschenrechte, auf die wir so stolz sind. Ob Italiener oder Deutsche sterben, ist – so gesehen – völlig egal, es sollte keiner mehr sterben, als unvermeidbar ist. Wenn wir also freie Betten haben, dann sollten wir kranke ItalienerInnen einfliegen, die darin versorgt werden, wenn dies medizinisch Sinn macht. Oder wir sollten nicht benutzte Atemgeräte nach Italien ausleihen, wenn dies medizinisch Sinn macht.

Ob das angesichts der langen Dauer, die Corona-Kranke beatmet werden müssen, der Fall ist, ob man also in dem Zeitintervall, von heute, wo unsere Geräte noch unausgelastet sind, bis zu dem Zeitpunkt, wo alle Geräte in Deutschland benötigt werden, Menschen retten kann, das müssen Mediziner beantworten. Dass eine positive Antwort möglich ist, zeigen erste Einzelfälle französischer Patienten aus dem Elsass, die in Karlsruhe aufgenommen werden. Während dies in Einzelfällen praktiziert wird, muss man sich aber fragen, ob dies nicht im „größeren Stil“ möglich wäre. Genauso sollten wir andersherum Atemschutzmasken etc. nach Deutschland schaffen, wenn es in Schweden zum Beispiel mehr als genug davon gäbe. So sollte wenigstens ein europäischer, letztlich aber ein globaler Austausch organisiert werden. Denn wem ist geholfen, wenn es nach Ende der Coronakrise noch Tausende Atemschutzmasken in Schweden gibt? Wir sollten Ressourcen so verteilen, dass sie optimalen Nutzen schaffen.

Aber dagegen sprechen ein allgemeiner und ein praktischer Einwand: Allgemein gesehen, ist es eben nicht so, dass wir global organisiert sind. Das hat auch Vorteile. Jeder weiß vor Ort am Besten, wie die Dinge effizient oder gerecht zu organisieren sind. Erfüllt jeder Nationalstaat diesen Job, geht es letztlich allen damit besser. Aber dieses Argument ist lediglich organisatorischer Art. Man ist sich einig darüber, dass Menschen prinzipiell gleich viel wert sind, schlägt aber ein verglichen mit dem Globalismus gegebenenfalls besseres Mittel vor, um die Menschen am Besten zu schützen: den funktionierenden Nationalstaat. Was aber, wenn dieses Mittel eben nicht mehr funktioniert?

Der praktische Einwand lautet: Wenn wir wirklich ItalienerInnen in deutsche Betten legen oder Beatmungsgeräte verleihen und der Höhepunkt der Krise bei uns schneller einsetzt als erwartet, könnten noch italienische Patienten die deutschen Betten oder Maschinen belegen, die dann „für uns“ blockiert sind. Gemäß der obigen ethischen Grundsätze könnte man wiederholen: „Ob Italiener oder Deutsche sterben, ist völlig egal.“ Aber wir sind nun mal national organisiert und deutsche Kassenpatienten haben vielleicht vorrangig Anspruch auf deutsche Betten. Zudem ist ein konsequenter Universalismus weder durchsetzbar noch durchhaltbar, wie die Flüchtlingskrise gezeigt hat. Es führt also kein Weg an einem Kompromiss vorbei, der aber internationaler gedacht sein muss als es unser jetziges Denken ist. Daher sollten wir gegebenefalls nicht völlig an die Grenzen gehen und eine gewisse Anzahl an Betten oder Maschinen als Notfallreserve zurückhalten.

Europa gibt derzeit mit dem wiederkehrenden Nationalismus ein erbärmliches Bild ab

Jedenfalls sollte man die Diskussion auf dieser Ebene führen, denn es kann nicht sein, dass mit der Wiederkehr der Grenzen auch unsere Moral wieder ins antike Griechenland zurückkehrt. Und gerade zu Griechenland sind wir eine Antwort schuldig, wie es allein mit der riesigen Ansteckungsgefahr in dicht belegten Flüchtlingscamps umgehen soll. Europa gibt derzeit mit dem wiederkehrenden Nationalismus ein erbärmliches Bild ab.

Universelles Denken könnte sogar Win-win-Situationen schaffen: Wenn wir den Ländern helfen, die auf dem Höhepunkt der Krise sind, würden diese auch uns leichter helfen, wenn die Krise bei ihnen bereits wieder abflaut. Das könnte etwa geschehen, indem sie bereits von Corona geheilte, immune Pflegekräfte anbieten, wenn sie bei uns knapp werden sollten.

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