debatte: Ein gerechtes Abi für alle?
Die Forderung nach einem Zentralabitur geht an den zentralen Problemen unseres Bildungssystems vorbei: Fachkräftemangel und soziale Ausgrenzung
Philipp Dehne
ist studierter Politik- und Islamwissenschaftler. Er unterrichtete sechs Jahre lang als Quereinsteiger und Lehrer an einer Berliner Sekundarschule. Anfang 2019 gründete er mit anderen Interessierten die Initiative „Schule in Not“, die sich für bessere Lern- und Arbeitsbedingungen an Berliner Schulen einsetzt.
Bundesweit einheitliche Abiturprüfungen einführen! Das forderte unlängst Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU). Vergleichbarkeit von Abschlüssen ist aber kein Wert an sich. Hinter Karliczeks Vorstoß steckt im Kern eine Gerechtigkeitsfrage: Wie kann Deutschland Schüler*innen einen gerechten Zugang zu universitärer Bildung gewährleisten? Doch ein Zentralabi löst weder das Problem des derzeitigen, zugegebenermaßen ungerechten Universitätszugangs über den Numerus Clausus (NC). Noch geht er auf die eigentlichen, viel drängenderen Gerechtigkeitsfragen unseres Bildungssystems ein.
Die Idee einer komplett gerechten Vergleichbarkeit der Abiturnoten ist eine Illusion. Sie verspricht Schüler*innen und der Gesellschaft etwas, das nicht zu halten ist. Schließlich setzt sich die Abiturnote nur zu einem Teil aus den Abiturprüfungen zusammen. Ungefähr zwei Drittel der Abi-Punkte stammen aus den über zwei Jahren erworbenen Zeugnisnoten, und damit aus den mündlichen und schriftlichen Bewertungen einzelner Lehrkräfte. Je nach Lehrer*in kann es dabei zu sehr unterschiedlichen Benotungen kommen, wie verschiedene Studien belegt haben. Den Faktor Mensch werden wir nicht los. Und das ist gut so. Denn auch wenn der Hype um die statistische Messbarkeit uns manchmal glauben machen möchte, dass man alles in Zahlen fassen und vergleichen kann, lassen sich viele Bereiche von schulischer Bildung nicht quantifizieren.
Weiterhin stellt sich die Frage, welche Idee hinter dem derzeitigen NC-Verfahren steht, das nach Karliczeks Idee ja beibehalten werden soll. Wird ein Abiturient aus Heidelberg ein besserer Arzt, weil er in der dann bundesweiten zentralen Matheklausur eine Zwei plus geschrieben hat, sein Altersgenosse aus Hamburg aber nur eine Zwei minus? Hier wäre es doch gesellschaftlich sinnvoller, grundlegend über ein anderes Auswahlverfahren nachzudenken, bei dem Hochschulen sich, nach bestimmten Vorgaben, einen größeren Teil ihrer Studierenden ohne Blick auf den NC aussuchen. Hierfür bräuchten die Universitäten allerdings mehr Personal. Frau Karliczek strebt mit ihrem Vorschlag also keine gerechtere, sondern eine kostengünstige und nur vermeintliche „Lösung“ zum Hochschulzugang an.
Viel gravierender ist allerdings, dass es beim Thema Bildungsgerechtigkeit in Deutschland größere Baustellen gibt, bei denen, trotz des föderalen Bildungssystems, eine Steuerung auf nationaler Ebene notwendig wäre. Der Bildungsbericht 2018 hat auf zwei große Probleme hingewiesen: den Fachkräftemangel und die weiterhin bestehende soziale Ausgrenzung im Bildungsbereich.
Eine ausreichende Zahl an gut ausgebildeten Lehrkräften, Erzieher*innen und weiteren pädagogischen Beschäftigten ist der Grundpfeiler eines funktionierenden und gerechten Bildungssystems. Doch dieser Pfeiler wackelt gerade bedenklich. Zukünftig wird deutschlandweit sowohl an Schulen als auch im vorschulischen Bereich eine riesige Zahl von Fachkräften benötigt. Der Bildungsbericht geht von rund 600.000 zusätzlich benötigten Plätzen in der Kindertagesbetreuung bis 2025 aus, und damit von sehr vielen fehlenden Erzieher*innen.
Wettstreit um Lehrkräfte
Bereits jetzt ist der Fachkräftemangel deutlich spürbar: Zum Start des neuen Schuljahres fehlen bundesweit mehrere Tausend Lehrer*innen. Am schlimmsten ist es in Berlin und Sachsen. Doch auch in anderen Bundesländern wie in Baden-Württemberg fehlen immer mehr Pädagog*innen.
Neben guten Quereinstiegsprogrammen – die sowohl den Anspruch der Schüler*innen auf guten Unterricht als auch die Situation der neuen Kolleg*innen berücksichtigen – müssen möglichst schnell neue Ausbildungs- und Studienplätze geschaffen werden. Bisher sucht aber jedes Bundesland Lösungen für sich. Oft gibt es sogar einen Wettstreit zwischen den einzelnen Bundesländern um ausgebildete Lehrkräfte. Gerade hier bräuchte es einen Vorstoß in Richtung einer nationalen Steuerung, um zumindest die personellen Grundlagen für Chancengerechtigkeit zu schaffen.
Denn der Lehrkräftemangel ist auch eine Gerechtigkeitsfrage. Er hat eine soziale Dimension. Schulen mit einem vermeintlich schlechten Ruf – oftmals sozial segregierte Schulen – haben schon heute die größten Probleme, Lehrkräfte zu finden. Unter dieser Personalsituation leiden dann vor allem Schüler*innen, die in Sozialräumen groß werden, die ihnen oftmals nicht genügend Unterstützung bieten.
Und gerade sie hatten doch schon in Zeiten vor dem Personalmangel die geringsten Chancen, ihr Abitur zu machen und den Zugang zu höherer Bildung zu erlangen. Schließlich ist der Universitätszugang in Deutschland immer noch so stark mit der sozialen Herkunft verbunden wie in kaum einem anderen OECD-Land. Mit dem zunehmenden Lehrkräftemangel verschärft sich diese Bildungsungerechtigkeit weiter. Dabei bräuchten wir doch gerade an segregierten Schulen genau das Gegenteil: eine deutlich bessere Betreuungsrelation und gute Unterstützungsstrukturen.
Wenn die Bundesbildungsministerin den Zugang zu deutschen Universitäten gerechter gestalten will, wäre das zu begrüßen. Aber dazu müsste sie die grundlegenden Gerechtigkeitsprobleme in unserem Bildungssystem angehen. Eine quantitativ und qualitativ bessere Ausbildung von Lehrkräften und anderen pädagogischen Fachkräften in allen Bundesländern! Endlich eine ernsthafte und nicht aufgeregt-stigmatisierende Debatte über sozial segregierte Schulen! Und Vorschläge, um diese Schulen sofort zu unterstützen und die Segregation mittelfristig ganz abzuschaffen!
Mit diesem Ansatz würde deutlich mehr für einen gerechteren Zugang zu deutschen Hochschulen erreicht als durch die Einführung zentraler Abiturprüfungen.
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