das wird: „Migrant*innen sind Individuen mit ihren eigenen Stärken und Schwächen“
Saher Khanaqa-Kükelhahn hört als Psychotherapeutin viele Geschichten von Migration und Integration. 28 von ihnen schildert sie im Buch „Mein Ich – mein Zuhause“, das sie heute in Bremen vorstellt
Interview Wilfried Hippen
taz: Frau Khanaqa-Kükelhahn, die 28 kurzen Erzählungen Ihres Buchs schildern die Lebenserfahrungen von Migrant*Innen in Deutschland. Sind diese literarischen Texte aus Ihrer Arbeit als Psychotherapeutin erwachsen?
Saher Khanaqa-Kükelhahn: Seit 31 Jahren habe ich eine Praxis als Psychotherapeutin und da habe ich viele Geschichten von der Migration und Integration gehört, die sich ähneln. Und meine Erzählungen sind angelehnt an viele dieser wahren Begebenheiten.
taz: Geschichten aus dieser Perspektive gehören ja so gut wie gar nicht zum kollektiven Bewusstsein dieses Landes. War das ein Grund dafür, warum Sie dieses Buch geschrieben haben?
Khanaqa-Kükelhahn: Geflüchtete und Menschen im Migrationsprozess werden fast immer als eine homogene Gruppe wahrgenommen, die in einer grauen Zone lebt. Aber sie sind alle individuelle Menschen mit ihren eigenen Stärken, Kompetenzen, Schwächen und kulturellen Zwängen. Ich will diese Menschen sichtbar machen und deshalb war es mir wichtig, Geschichten zu erzählen, in denen etwas Positives aus dem erwächst, was diese Menschen in sich tragen.
Mein Ich – mein Zuhause, Kellner-Verlag, 80 S., 17 Euro; Buchpremiere heute, 19.30 Uhr, Theater Bremen, Kleines Haus, www.theater-bremen.de
taz: Auch wenn Sie zum Beispiel in einer der Geschichten eine junge Frau aus Ghana von der brutalen Gewalt erzählen lassen, die ihr angetan wurde, haben tatsächlich alle Ihre Geschichten ein optimistisches Ende. Ist das realistisch oder nicht doch Wunschdenken?
Khanaqa-Kükelhahn: Ich kann ganz frech aus meiner eigenen Erfahrung behaupten, dass 90 Prozent der Menschen mit traumatischen Erfahrungen dann, wenn man schafft, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen und sie nicht als Opfer zu sehen, in ihrem Leben eine neue Wendung mit einer neuen Basis und einem neuen Zuhause finden. Das ist mein tägliches Brot.
taz: Sie schreiben Ihre Geschichten als Rollenprosa, also aus dem Blickpunkt und in dem Idiom der Protagonist*innen. Das ist auch literarisch interessant, weil Sie den Ton immer überzeugend treffen. Haben Sie dieses gute Ohr für die Sprache auch in Ihrem Beruf entwickelt?
Khanaqa-Kükelhahn: Ich kann die Menschen ja nur behandeln und ihnen weiterhelfen, wenn ich sie verstehe. Und das bedeutet ja immer auch, in ihre Welt und ihre Sprache einzutauchen. Ich kann mich gut in die Menschen hineinversetzen und bei meinen Texten ist es dann ein Stilmittel, um von ihrem Fokus aus die Welt zu sehen.
taz: Sie erzählen von Migrationserfahrungen von Menschen aus der Ukraine, aus Syrien, Ghana und auch aus der ehemaligen DDR. In einer Geschichte lassen Sie sogar einen Hund in sehr kultiviertem Deutsch von seinen türkischen Herrchen erzählen. Wie sind Sie denn auf diese witzige Idee gekommen?
Khanaqa-Kükelhahn: Ich haben mal auf einem Campingplatz beobachtet, wie ein Hund von einer türkischen Familie behandelt wird und als ich dann fragte, wo der Hund hergekommen ist, hat ein Jugendlicher protzig geantwortet: „Das war der Hund von einem Professor.“ Und dann habe ich darüber nachgedacht, dass der Hund von diesem deutschen Bildungsbürger ganz anders behandelt wurde als es in unseren Kulturen üblich ist. Das ist ja ganz ähnlich wie bei Menschen in einem Flüchtlingsheim, die in ihren Heimatländern einen hohen Status hatten, von dem in Deutschland nichts mehr übrig geblieben ist.
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