das wird: „Hilfsangebote für Wohnungslose werden abgebaut“
Die Bremer Autorin Angelika Sinn liest aus ihrem Buch „Keine Bleibe“ über wohnungslose Frauen
Interview Wilfried Hippen
taz: Frau Sinn, Sie erzählen in Ihrem Buch die Lebensgeschichten von acht Frauen, die keine Wohnung haben. Wie ist es dazu gekommen?
Angelika Sinn: Da ich als freiberuflich Arbeitende in der Coronazeit viel freie Zeit hatte, begann ich ehrenamtlich im „frauenzimmer“ zu arbeiten, einem Bremer Tagestreff für Frauen in Not. Dort habe ich eine Schreibwerkstatt installiert, in der Frauen über ihre Lebenserfahrungen geschrieben haben. Dabei sind viele schöne Texte entstanden, aber ich wollte noch tiefer in die Geschichten von acht dieser Frauen einsteigen, weil sie zugleich einzigartig und exemplarisch sind.
taz: Verstehen Sie sich da eher als eine Sammlerin oder als die Autorin?
Sinn: Zuerst habe ich diese Geschichten gesammelt, aber dann auch aufgeschrieben. Ich habe lange Interviews mit den Frauen geführt und ihnen dann meine Texte gegeben. Da wurde vieles noch berichtigt sowie ergänzt und schließlich haben sie meine Texte autorisiert. Ich verstehe mich dabei als ihr Sprachrohr.
taz: Aber ist es nicht auch wichtig, jeweils den Ton der Frauen wiederzugeben?
Sinn: Darum haben die Texte mehrere Ebenen. Es gibt meine Erzählstimme und ich schreibe auch von meinen persönlichen Eindrücken. Dann gibt es O-Töne aus den Interviews und dazu noch kleinere Texte von den Frauen selber.
taz: Warum sind die Geschichten exemplarisch?
Sinn: Sie sind zwar individuell verschieden, aber es gibt Überschneidungen. Die Frauen erzählen von Gewalterfahrungen in ihrer Kindheit, von Vernachlässigung und Missbrauch. Bei den meisten Menschen, die in eine Notlage geraten, wurden diese Probleme schon in ihrer Kindheit und Jugend angelegt.
taz: Es gibt also Muster?
Sinn: Ja, die Frauen sind in Familien aufgewachsen, in denen es nicht genug Zuwendung und Liebe gab, oft sogar nicht genug zu essen. Frauen werden oft wohnungslos, weil sie durch Alkoholismus, Drogen oder psychische Erkrankungen belastet sind.Und nach meiner Erfahrung liegen die Gründe dafür immer in den Familiengeschichten.
taz: Was hat Sie besonders überrascht?
Lesung am 21. 2. um 19.30 Uhr, Ortsamt Horn-Lehe, Leher Heerstraße 105, Bremen
Sinn: Interessant ist, dass die Muster dieser Familiengeschichten schon in früheren Generationen auftreten. Da kommen schon die Eltern aus sehr schwierigen Familienverhältnissen. Einige Frauen mussten schon als Kinder mit ihren Müttern in ein Frauenhaus gehen, weil die Väter gewalttätig oder missbräuchlich waren. Und da zeigt sich, dass viel Präventionsarbeit nötig wäre, um etwas zu ändern.
taz: Ist Ihr Buch auch ein Appell an die Politik?
Sinn: Ja, denn hier geht es nicht um individuelle Probleme, sondern sie sind gesellschaftlich bedingt. Viele wohnungslose Frauen wären inzwischen in der Lage, in einer Wohnung zu leben, aber sie finden keine mehr, weil diese zu teuer sind und sie es sich nicht mehr leisten können. Außerdem gibt es nicht genug Sozialarbeiter*innen und Sozialpädagog*innen. Stattdessen werden Hilfsangebote für wohnungslose Menschen abgebaut. Das haben wir gerade in Bremen wieder erlebt, wo ein Projekt für obdachlose Jugendliche zu Ende ging. Die Betreuungssituation ist katastrophal.
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