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berliner mauernReisefreiheit nach Genua

Es gibt „kein Grundrecht auf Ausreise“, erklärt Berlins neuer Innensenator. Erhart Körting, ein SPD-Mann, rechtfertigt mit dem Spruch, dass seit Ende vergangener Woche mindestens sieben Berliner Globalisierungsgegnern die Reise zum G-8-Gipfel in Genua, dem Treffen der großen Wirtschaftsmächte, verwehrt wird. Täglich müssen sich die Betroffenen nun bei ihrer Polizeidienststelle blicken lassen. Weitere mutmaßliche Gipfelgegner erhielten Post vom Landeskriminalamt: Das Land Berlin werde Straftaten, auch im Ausland begangene, nicht hinnehmen. Bundesinnenminister Schily kündigt ebenfalls Reiseverbote für „Krawallmacher“ an. Im Lande Brandenburg, so klagen Gipfelgegner, bereite das dortige Innenministerium mindestens 15 ähnliche Maßnahmen vor.

Kommentarvon WOLFGANG GAST

Déjà vu. Anfang Oktober 1989: Die DDR taumelt den Feierlichkeiten ihres 40. Geburtstages entgegen. Was heute das Genua-Verbot für Globalisierungsgegner ist, hieß damals Berlin-Verbot. Oppositionelle im Arbeiter-und-Bauern-Staat, die nicht in Berlin wohnten, wurden an Reisen in die Hauptstadt gehindert, andere wurden für diese Zeit aus der Stadt gewiesen. Die Mittel von damals ähneln den heutigen. Sie reichten vom freundlichen Besuch eines Volkspolizisten bis zum förmlichen Verbot.

Nun steht nicht zu befürchten, dass vier Wochen nach dem Gipfeltreffen in Genua ähnlich epochale Umbrüche wie in der DDR im November 1989 anstehen. Auch lässt sich der totalitäre SED-Staat nicht mit den Teilnehmerländern des Gipfeltreffens in Genua gleichsetzen. Bemerkenswert ist aber eine Parallele: Im Versuch, Proteste zu verhindern, strapazieren Politiker und Behörden die eigenen Regeln, wenn sie diese nicht sogar außer Kraft setzen. Der Zweck bestimmt die Mittel. Wo die politische Auseinandersetzung mit den Motiven des Protestes notwendig wäre, schickt der Staat die Polizei und schneidet tief in die Grundrechte ein. Ein Kreislauf droht, wenn sich die Betroffenen gegen die unakzeptablen Einschränkungen des Polizeirechts wehren.

Unakzeptabel, weil Reisefreiheit und Freizügigkeit elementare Bestandteile der persönlichen Grundrechte sind – so wie auch die Unschuldsvermutung. Die verbietet es, Gipfelgegner kurzerhand zu „Krawallmachern“ zu stilisieren. Grundrechte können nicht nach Belieben gewährt oder beschränkt werden. Es gibt sie oder es gibt sie nicht. Ein Innensenator der SPD sollte das wissen. Schließlich gibt es auch kein Grundrecht auf Dummheit.

reportage SEITE 5, inland SEITE 6

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