bascha mika über Gegengift: Zur Lage der Nation
Herbst 2002 – dem bürgerlichen Charakter fehlen die fernen Ziele zur notwendigen Entsagungsbereitschaft
Was schaust denn so? Hat die Novemberdepression jetzt auch dich erwischt?
Bei den wenigen Menschen, die derzeit nicht depressiv gestimmt sind, sagt mein Lieblingsreaktionär düster, handelt es sich um Regierungsmitglieder oder Gewerkschaftsfunktionäre.
Interessante Auswahl. Sprichst du von einer anaklitischen, endogenen, agitierten, larvierten, psychogenen, reaktiven, somatogenen, hypochondrischen oder hysterischen Depression?
Sind wir ein Volk von Menschen, die auf Geburtstagsfeiern dem Besoffensten den Autoschlüssel in die Hand drücken, um uns nach Hause zu fahren? Ist unsere Lust am Untergang derart ausgeprägt?
Eindeutig hysterisch …
Was nichts anderes bedeuten sollte, als dass die Regierung unser Land, das im noblen Dienstwagen so gern bereiste, in ein Gehege für Pleitegeier verwandelt, gänzlich und ohne Federlesen.
Deutschland – ein Geiergehege, alles kaputt und kahl gefressen, nichts wächst mehr. Wir sind eines der reichsten Länder der Erde, schon vergessen? Jeder weiß …
… was eine Regierung tun müsste, die ein ernsthaftes Interesse daran hätte, das Land vor dem Abschmieren in die Zweite Welt zu bewahren.
Stimmt, mich erninnert München auch immer mehr an Bukarest.
Und die Generation, deren Zukunft die rot-grüne Regierung im Begriff ist zu zerstören, muckt nicht auf.
Gott sei Dank leiden noch nicht alle unter galoppierendem Realitätsverlust.
Fragen müssen wir uns schon, warum wir offenbar die begriffsstutzigsten Nachhilfeschüler an die Regierung gewählt haben, klagt mein Lieblingsreaktionär. Wir dürfen nicht zulassen, dass alles weiter bergab geht, hilflose Politiker das Land verrotten lassen.
Musst du gleich das ganze Land in Geiselhaft nehmen, nur weil du ein Problem hast?
Wenn wir heute so teilnahmslos einer Regierung dabei zusehen, wie sie das Land ruiniert, liegt das auch daran, dass wir von diesem unserem Lande keinen Begriff mehr haben, grollt er finster. Ferne Ziele, die den bürgerlichen Charakter einst entsagungsbereit sein ließen, werden für unwählbar gehalten.
Dein so genannter bürgerlicher Charakter klingt wie ein Sadomaso, der’s gern patriotisch treibt – zum Wohle des Vaterlandes, versteht sich.
Was ist das, unser gemeinsames Wohl? Eine Leerstelle, die sich offenbar nicht mehr emphatisch besetzen lässt – vielleicht auch, weil der diskreditierte Begriff der Nation dafür scheinbar nicht mehr in Frage kommt.
Wenn einem nichts mehr einfällt, fällt einem die Nation ein. Hast du’s nicht ein bisschen kleiner?
Politikfelder, deren Vertrautheit die Politiker sonst tröstet, erscheinen ihnen jetzt, da ein endzeitliches Beben das Kabinett erschüttert, so starr und sternenfern wie ein einsamer Himmelskörper, wie eine Natur, die nie vom Menschen bewohnt worden ist.
Und der Kanzler ist E. T. – vertraut und doch so fremd.
Noch weiß niemand so genau, was den Kanzler reitet. Träumt er von einer „strukturellen sozialdemokratischen Mehrheit“ aus Arbeitslosen, Sozialhilfeempfängern und Rentnern?
Ich weiß nicht, wovon der Kanzler träumt. Du träumst von Sicherheit, Sicherheit, Sicherheit! – Für dich und deinesgleichen, die jede Erschütterung ihrer Wohlstandssaturiertheit mit Armageddon verwechseln.
Es wird dieses Deutschland so nicht mehr geben, weil nicht wir, sondern die Migranten die Kinder bekommen haben.
Einige Wochen Rot-Grün und die deutsche Spezies ist gefährdet. Wie haben sie das nur so schnell hingekriegt?
Hier dürfen manische Partikularinteressenvertreter längst durchdachte politische Lösungen so lange zerreden, bis man sich als Minimalkompromiss auf die Herausgabe eines wirkungsfreien Mantras einigt.
Und so klingt das Mantra eines arroganten Leistungsträgers, der zum hysterischen Jammerlappen wird …
… als sei das Land noch immer das alte, als würde Deutschland nicht soeben kaputtregiert …
Nichts mehr, wie es vorher war? Diese Beschwörung des finalen Umbruchs hatten wir doch gerade erst. Jetzt schaffen nicht nur al-Qaida, sondern schon Schröder/Fischer den Total-Relaunch unseres politischen und gesellschaftlichen Koordinatensystems?
Es festigt sich im Land die Überzeugung, dass unser Parteiensystem, in welcher Farbkombination auch immer, den heutigen Herausforderungen in keiner Weise gewachsen ist und daher von der Krise verschlungen werden wird …
*Alle „Redebeiträge des Lieblingsreaktionärs“ sind wörtliche Zitate. Sie entstammen kürzlich erschienenen Artikeln der Feuilletons von „FAZ“ und „FAS“ zur rot-grünen Politik.
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