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ausgesessenWahrscheinlich verzichtet Bremen in Bus und Bahn auf Strafanzeigen

Seit etwa 15 Jahren denkt man in Bremen darüber nach, wie man verhindern kann, dass Menschen wegen wiederholten Fahrens ohne Fahrschein in Bus und Bahn ins Gefängnis müssen. Die Lösung ist denkbar einfach: Wenn das Erschleichen von Beförderung nicht mehr als Straftat, sondern als Ordnungswidrigkeit gewertet würde. Dafür müsste allerdings ein Bundesgesetz geändert werden, das aus dem Jahr 1935 stammt, der Paragraf 265a StGB. Für dessen Abschaffung sollte sich Bremen im Bundesrat einsetzen, forderte 2017 die Fraktion der Linken in der Bremischen Bürgerschaft, damals noch in der Opposition, seit 2019 regiert sie mit SPD und Grünen zusammen.

Es passierte aber erst einmal nichts, bis der im Dezember 2021 in Berlin neu gegründete Verein „Freiheitsfonds“ das Thema mit Freikäufen von Inhaftierten bundesweit auf die Tagesordnung hievte. Daraufhin stellte die Bremer Straßenbahn AG (BSAG) im Sommer 2022 in Aussicht, in Zukunft bei wiederholtem Fahren ohne Fahrschein keine Strafanzeige mehr zu stellen. „Wir prüfen das aufgrund der aktuellen politischen Diskussion“, sagte damals ein BSAG-Sprecher der taz.

Das Unternehmen prüfte so gründlich, dass die rot-grün-rote Koalition ein Jahr später in ihren Koalitionsvertrag schrieb, sie wolle „bei der BSAG darauf hinwirken, dass diese bei Fahren ohne Fahrschein keine Strafanträge mehr stellt“. Zu diesem Zeitpunkt setzten dies die Verkehrsbetriebe mehrerer Großstädte in Nordrhein-Westfalen in die Tat um – allerdings auch nur dann, wenn sie dazu wie in Düsseldorf eine sehr konkrete Anweisung der Kommunen bekommen hatten, denen sie gehörten.

In Bremen hingegen kündigte die SPD-­Verkehrssenatorin Özlem Ünsal im September 2023 in der Bürgerschaft lediglich an, nach einem Termin für eine Sitzung des Aufsichtsrats zu suchen, um dort „bei der Geschäftsführung auf eine entsprechende Umsetzung ­hinzuwirken“.

Wiederum ein Jahr später erzählte ihr Parteigenosse und Justizstaatsrat Björn Tschöpe im Interview mit Radio Bremen, die Anweisung des Senats sei erfolgt und das Anzeigenniveau aufgrund von Beförderungserschleichung „erheblich“ gesunken.

Über diese Aussage wunderte sich wiederum die Neue Richter*innenvereinigung, ein Verein, dem auch Bremer Richter und Richterinnen angehören. Und die hatten nach wie vor mit dem Thema zu tun. „Entsprechende Tatvorwürfe werden weiterhin durch die BSAG angezeigt und durch die Staatsanwaltschaft bei den Gerichten anhängig gemacht“, schrieben sie Ende März in einer Pressemitteilung.

700 Strafanzeigen habe die BSAG im vergangenen Jahr gestellt, teilte ein Sprecher der Verkehrssenatorin der taz jetzt mit, bei ­Tschöpes Äußerungen habe es sich um „ein Missverständnis gehandelt“.

Bis Ende 2027 will die BSAG in einem Pilotprojekt auf Strafanzeigen wegen Fahrens ohne Fahrschein verzichten

Nun aber würde die BSAG „im Rahmen eines Pilotprojekts bis Ende 2027 vollständig auf Strafanzeigen wegen Fahrens ohne Fahrschein verzichten“, heißt es in der Mail aus dem Verkehrsressort weiter, allerdings ohne einen konkreten Zeitpunkt zu nennen. Dieselbe Aussage wiederholte der Senat am Montag auch in der Bürgerschaftssitzung noch einmal, jetzt also wirklich. Die Fraktion der Linken „begrüßte“ in einer Pressemitteilung „diesen längst überfälligen Schritt“ und erinnerte daran, dass es sich bei den Angezeigten fast immer „um ­armutsbetroffene Menschen“ handle. Ein zivilrechtlicher Konflikt müsse auch zivilrechtlich gelöst werden. „Wenn ich meine Handyrechnung nicht bezahle, komme ich dafür schließlich auch nicht vors Strafgericht.“

In Bremerhaven hingegen stellen die ­Verkehrsbetriebe wieder Strafanzeige, wie ein Sprecher der taz am Dienstag sagte. Bis etwa 2023 habe es zehn Jahre ohne Strafanzeigen gut funktioniert, sagt der Sprecher. Aber nachdem diese humane Praxis öffentlich bekannt geworden war, seien mehr Menschen als ­vorher ohne Ticket erwischt worden.Eiken Bruhn

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