Zwischen den Rillen: Zwei zu null für England
■ Vom deepen Leid des Verlassenwerdens – die Girlgroup des Brit-Soul: All Saints
Erinnern Sie sich? Als Take That im Zenit ihres Ruhmes standen? Als wir die Bilder von hysterischen Zwölfjährigen noch mit Faszination goutierten? Als Boygroups sich plötzlich im gehobenen Popdiskurs wiederfanden? Genau an diesem Punkt gab es einen Knall, und die Ur-Boygroup der Neunziger zerstob in individuelle Biographien beziehungsweise Genres. Gleichzeitig war die Saat gestreut für Nachfolger und Nachahmer. Das Prinzip Boygroup war kapiert, nun ging es darum, die Fans und Teddybären untereinander zu verteilen.
Selbe Disziplin, anderes Geschlecht: Die Spice Girls haben den Zenit ihres Ruhms bereits überschritten, mehr Geld verdient, als Take That je zu träumen wagten, und wirken ein wenig abgespannt. Kein Wunder, sind sie doch ihr eigener Konzern, in dessen Vorstand sie selbst sitzen. Das streßt! Trennen können sie sich nicht mehr einfach so, denn das hätte den Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen zur Folge. Trotzdem, wie das mit den Girlgroups funktioniert, haben inzwischen auch alle kapiert. Der Streit um die Frage, ob das alles reaktionärer Scheiß oder zeitgemäßer Feminismus ist, hat sich im Nirgendwo zerfranst. Und ja, es gibt auch Spice-Girls-Klopapier zu kaufen, echt wahr! In anderen Worten: Es wird langweilig! Wer wird also die nächste große Girlgroup? Auf den kleinen Bühnen der Welt tanzen und singen sich schon seit längerem die Konkurrentinnen warm. Eigentlich wären die Amis an der Reihe, ihre Variante von (Girl) Power-Entertainment zu präsentieren. Doch von dort kommt nichts Würziges. Deutschland schickte die Funky Diamonds mit ihrer Single „I Know That You Want Me“ und „Solid Harmonie“ mit „I Want You To Want Me“ ins Rennen. Resultat: Einfallslosigkeit nicht nur in der Titelgestaltung, was mit internationaler Ignoranz honoriert wird.
Statt dessen zwei zu null für England mit einem gemischten Quartett mit dem Namen All Saints. Die vier Sängerinnen heißen Shaznay, Melanie, Nicole und Natalie und sind schon allein von ihren Namen her prädestiniert, in einer Girlgroup zu leben (Nachnamen gibt's nicht). Ihr Debüt heißt ebenfalls „All Saints“ – wir sparen uns an dieser Stelle die Debatte darüber, ob es bescheuert ist, sich so zu nennen, ob es die Riot-Grrrl- Antwort darauf namens All Whores geben wird, oder ob es hoffnungsvoller Aberglaube ist, mit dem Katholizismus im Namen zu flirten (Madonna!). In Großbritannien kassierten All Saints bei den diesjährigen Brit Awards jedenfalls die Preise für beste Single und bestes Video.
Sie machen süßen, melodiösen, kräftigen und billigen Brit- Soul. Anstatt bei jeder Gelegenheit „Girl Power“ zu schreien, seufzen und schmachten sie lieber inbrünstig, aber nicht unanständig vor sich hin. Ihr erster großer Hit „Never Ever“ läuft im Intro zur Melodie des Gospelklassikers (oder Klischees) „Amazing Grace“ und handelt vom deepen Leid des Verlassenwerdens. Ihr ganzes Album ist der Versuch, über den klassischen Popansatz von Girlgroups noch eine Schicht „Blackness“ zu legen, ohne daß die CD deswegen unter Rhythm 'n' Blues eingeordnet wird. Bei den musikalischen Arrangements drückten die Produzenten die naheliegenden Effektknöpfchen: Hier und da darf ein bißchen gescratcht werden, oder es wird auch mal ein HipHop-ähnlicher Beat eingewoben – vorhersehbar, aber nicht schlimm.
Die Stärke von All Saints liegt in ihren Stimmen, die vergleichsweise virtuos Tonleitern und Stimmungen im Griff haben und sich nicht so anhören, als würden sie am liebsten den ganzen Tag „Tralala“ singen. Ganz hübsch ist auch die Coverversion der Testosteron-Ballade „Under The Bridge“ von den Red Hot Chilli Peppers.
Gibt es eine Strategie hinter All Saints? Anders als die Boygroups, die nach Take That kamen und im wesentlichen das Erfolgsmodell Take That kopierten, werden All Saints nicht als Spice Girls nach der Frischzellenkur verkauft. Das Konzept hinter ihnen ist noch breiter angelegt: Von En Vogue bis Spice Girls will man die Fans mitnehmen, nicht wegnehmen. Ob das klappt, hängt auch davon ab, wie sehr man eine Band pushen kann, die sich nicht dem Rollenterror unterwirft, auf dem ein großer Teil der Boygroup-Erfolgsstory und der Spice-Girl-Victory basiert.Bisher mußten Shaznay, Melanie, Nicole und Natalie sich (noch) nicht in sportliche, lebhafte, schüchterne, vorlaute, eingebildete oder sonstige Unteridole aufteilen. Sündhaft schön sein, das reicht für den Anfang.
Bleibt also, neben der Musik und den Videos, nur der gute, alte Klatsch als Chart-Beschleuniger. Da gibt es zu vermelden, daß Melanie die neue Freundin von Take-That-Enfant-terrible Robbie Williams ist. Ob das nach dessen standesgemäßer Popstar-Grundsanierung (Entzug etc.) noch etwas hermacht? The Face erwähnte All Saints bisher nur in einem Artikel über deren Anwältin. „Sehr klare, intelligente Mädchen“ seien die vier, sagt sie. Würde sie etwas anderes behaupten, wäre sie wohl ihren Job los. Geht das Konzept auf, ist sie bald eine der reichsten Anwältinnen Englands: All Saints haben für jeden ein schönes Gefühl. Heike Blümner
All Saints: „All Saints“ (Motor)
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