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Zwischen Träumenund Traumata

Nastia und Vika wurden im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine schwer verletzt. Die Freundinnen werden im Kinderkrankenhaus Ochmatdyt in Kyjiw behandelt. Dort sollen nicht nur ihre körperlichen Wunden heilen

Aus Kyjiw Julia Belzig und Klaudia Lagozinski

Ein Geschoss, abgeworfen von einer russischen Drohne, traf im September 2024 Vika Zadnipryanas Kinderzimmer in der ukrainischen Stadt Cherson. „Ich wache durch ein lautes Geräusch auf. Schnell begreife ich, dass ich schwer verletzt bin. Die ganze Zeit bleibe ich bei Bewusstsein, sehe und verstehe alles“, sagt die heute 14-Jährige. Das Mädchen mit dem dunkelrot gefärbten Zopf ist mittlerweile seit knapp einem Jahr im Kinderkrankenhaus Ochmatdyt in der Hauptstadt Kyjiw. Die Sanitäter hätten zunächst nicht gewusst, wie sie sie behandeln sollen.

„Ich helfe mit meinen Beinen, rutsche ein bisschen rüber. Dann tragen sie mich zum Krankenwagen.“ Doch wegen des anhaltenden Beschusses kann dieser erst mal nicht losfahren. Im Krankenhaus angekommen, setzten die Ärzte Vika unter Narkose. „Nach knapp einer Woche komme ich zu mir“, sagt Vika. Sie lebt, hat aber einen Arm verloren.

Wie viele verletzte Kinder in der Ukraine wurden Vika Zadnipryana ins medizinisch besser ausgestattete Kyjiw verlegt. Auch die 16-jährige Nastia Shadura liegt dort im Krankenhaus. Sie verlor ein Bein, als wenige Meter von ihrem Wohnhaus entfernt eine russische Rakete einschlug. Wegen schwerer innerer Verletzungen musste sie in den vergangenen sieben Monaten immer und immer wieder operiert werden – mehr als 70 Mal, sagt ihre Mutter Julia Shadura. Vor russischen Angriffen sind verletzte Kinder jedoch selbst in der Hauptstadt nicht sicher.

Das Kinderkrankenhaus Ochmatdyt ist das größte Kinderkrankenhaus der Ukraine und eines der größten in Europa. Seine Geschichte reicht bis ins Jahr 1894 zurück, als es ursprünglich als Freies Kyjiwer Krankenhaus für Ar­bei­te­r*in­nen und Arme gegründet wurde. Heute ist es die zentrale Einrichtung für die medizinische Versorgung von Kindern in der Ukraine, 20.000 Menschen werden hier jährlich behandelt.

Mit einem Marschflugkörper griff Russland am 7. Juli 2024 das Kinderkrankenhaus an. Zwei Menschen starben, 30 wurden schwer verletzt. „Fassungslosigkeit und Wut“, titelte die taz am darauffolgenden Tag. Eine der Ruinen steht noch immer mitten auf dem Gelände. Die hellgrüne Ziegelsteinfassade steht zum Teil noch, auf dem Dach lugen einzelne Balken hervor. Die Fenster haben keine Scheiben mehr, die Fensterrahmen sind verbogen und verbeult. Der abgeblätterte Putz lässt die massive Wucht der Druckwelle vermuten. Einige Türen und Fenster sind von innen mit Spanplatten verbarrikadiert. Auch das Glas in den Türen im Inneren des Gebäudes fehlt. In den zitronengelben Gängen sammeln sich Trümmerhaufen und Schutt.

Finanziert wird das Kinderkrankenhaus Ochmatdyt zum großen Teil durch das ukrainische Gesundheitsministerium. Zusätzlich erhält es Unterstützung von Regierungen anderer Länder, gemeinnütziger Organisationen und privaten Spendern. Nach dem Angriff im vergangenen Sommer stellte das deutsche Entwicklungsministerium zehn Millionen Euro für den Wiederaufbau bereit.

Trotz des Raketeneinschlags blieben Vikas Mutter Anna und Nastias Mutter Julia bei ihrer Entscheidung, ihre schwerverletzten Kinder dort behandeln zu lassen. „Sie haben hier die besten Ärzte“, sagt eine der Mütter, die täglich dem Alltag ihrer Tochter im Krankenhaus beiwohnt.

„Die Kinder mussten schnell erwachsen werden. Ihnen wurde ihre halbe Kindheit gestohlen: erst durch die Pandemie, dann durch den Krieg“

Anna Zadnipryan, Mutter eines verletzten Mädchens

Tetiana Pidkova arbeitet seit 13 Jahren als Kinderpsychologin in der Ochmatdyt-Klinik. „Eltern sind für jedes Kind wichtig“, sagt Pidkova, „sie schenken Vertrauen und Fürsorge, setzen sich ein und unterstützen es emotional. Kommt ein Kind ins Krankenhaus, wird die Mutter zu seinem Universum.“ Mit Nastia und Vika spricht die Psychologin fast täglich.

Sie erinnert sich, dass Nastia anfangs gar nicht sprach. „Ich führte eher einen Monolog“, sagt die Kinderpsychologin mit schulterlangen blonden Haaren und einem sanften, müden Blick. Pidkova sieht Nastia an, die grinst. Nach einiger Zeit öffnete sich das Mädchen den Gesprächen. „Sie ist sehr tiefgründig und aufmerksam“, sagt Pidkova.

Vika würde anders mit dem Erlebten umgehen, sagt die Psychologin. Zunächst soll sie viel verdrängt haben, mit Scherzen und Lachen. Erst nach und nach konnte die Jugendliche alles das, was ihr passiert war, an sich heranlassen. „Diese zwei jungen Damen haben einander definitiv unterstützt“, sagt Pidkova.

Obwohl die Mädchen in Cherson nur 15 Fahrminuten voneinander entfernt wohnten, begegneten sie sich erstmals im geteilten Krankenzimmer in Kyjiw. Dort wurden Nastia und Vika in dieser Zeit von Bettnachbarinnen zu Freundinnen. Sie konnten die Lebensrealität der jeweils anderen nachvollziehen, unterstützten sich, so gut es ging: Als Nastia den schmerzhaften Verbandswechsel ertragen musste, war Vika an ihrer Seite. Noch vor zwei Monaten konnte Nastia nur liegen, jetzt sitzt sie in ihrem Rollstuhl, läuft sogar ab und an auf Krücken. Sie hat wieder angefangen zu zeichnen und erzählt, dass sie einem behandelten Chirurgen ein Porträt von ihm geschenkt hat.

Vor Kurzem hat sie einen Laptop bekommen, auf dem sie nicht nur den Shooter „Playerunknown’s Battlegrounds“ zockt, sondern endlich auch wie so viele andere Kinder aus Cherson online am Unterricht teilnehmen kann.

Ihre Freun­d*in­nen aus Cherson im Süden der Ukraine, unweit des Schwarzen Meers, vermissen die beiden sehr. Sich zu besuchen ist schwer, wenn Krieg herrscht.

Eine Mutter wartet mit ihrem Sohn im Kinderkrankenhaus Ochmatdyt auf die Behandlung Foto: Johanna Maria Fritz/Ostkreuz

Im Sommer 2024, bevor die Drohne einschlug, war Vika oft mit ihren Rollerblades draußen unterwegs und fand viele neue Freund*innen. Seit sie ihren Arm verloren hat, stand sie noch nicht wieder auf den Rollen, aber plant das für die Zukunft. „Sie mussten schnell erwachsen werden“, erklärt ihre Mutter Anna. „Ihnen wurde ihre halbe Kindheit gestohlen: erst durch die Pandemie, dann durch den Krieg.“

„Wir müssen zu Kindern werden, wenn wir Kindern helfen wollen“, sagt Kinderpsychologin Pidkova. Sie erklärt, dass traumatische Erlebnisse bei Kindern anders als bei Erwachsenen behandelt werden. „Wir spielen, malen, erfinden Geschichten. Wir nutzen beispielsweise Sand und kleine Figuren, damit das Kind die Geschichte, die ihm passiert ist, darstellen kann. Und dann schauen wir uns die Situation aus verschiedenen Blickwinkeln an“, sagt sie. Auch die Besuche von Menschen mit ähnlichem Schicksal schenken den Mädchen Hoffnung. Nastia erinnert sich an den Besuch eines Veteranen, der beide Beine verloren hatte und sie in ein Café einlud: Sascha. Als die 16-Jährige Angst hatte, die Straße zu überqueren, stellte Sascha sich mit seinem Rollstuhl mitten auf die Straße und stoppte den Verkehr für Nastia.

„Die Kinder müssen ihre Situation akzeptieren und dürfen gleichzeitig nicht mit Angst durchs Leben gehen. Es ist unsere Aufgabe, sie davon zu überzeugen, dass sie singen, tanzen, malen, reisen können. Das Wichtigste ist, dass sie einen starken Willen entwickeln – dass sie daran glauben, dass sie all diese Dinge machen können, die sie machen wollten“, sagt Pidkova. Der Krieg hat ihnen vorerst ihre Heimat genommen, nicht aber ihre Zukunft, ihre Träume und ihre Hoffnung. Vika möchte reisen, Nastia will Kunst machen. Beiden stehen noch weitere Operationen bevor.

Auf die Frage, ob sie nach Cherson zurückkehren möchten, antworten Mütter und Töchter direkt mit „Ja“. Wie wahrscheinlich eine Rückkehr ist, weiß niemand. Geht es nach den sogenannten Friedensplänen von US-Präsident Donald Trump, wäre Cherson eines der Gebiete, die unter russischer Kontrolle verbleiben sollen. „Kyjiw ist uns zu trubelig und überfüllt“, sagt Nastias Mutter. Cherson sei heimeliger. Trotz der Zerstörung und der ständigen Gefahr, dass das nächste Geschoss einschlägt.

Diese Reportage wurde durch die Initiative „Women on the Ground: Reporting from Ukraine’s Unseen Frontlines“ der International Women’s Media Foundation in Partnerschaft mit der Howard G. Buffett Foundation unterstützt.

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