Zweiter Weltkrieg: Die Erinnerung droht zu erlöschen
Der Verband deutscher Widerstandskämpfer gegen Nazideutschland löst sich auf. Seine Mitglieder sterben - oder vergessen. Zwei frühere Emigranten erzählen von ihrer Vergangenheit im Exil.
An den Namen des russischen Präsidenten kann sich Hanna Podymachina nicht erinnern. "Wer ist Medwedjew?", fragt sie, obwohl sie das von ihm unterzeichnete Schreiben zu ihrer Ehrung mit der Gedenkmedaille zum "65. Jahrestag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg" mehrfach gelesen hat. Ihr Gedächtnis Wladimir Putin hat ihr vor sechs Jahren bei der Parade zum 60. Jubiläum in Moskau persönlich die Hand geschüttelt.
Die 87-Jährige sitzt in einem Café an der Karl-Marx-Allee, all ihre Auszeichnungen hat sie vor sich auf dem Tisch liegen. Die Tapferkeitsmedaille, die Siegesmedaille mit dem Konterfei Stalins, den Orden für die Befreiung von Belgrad, den Orden für die Einnahme von Wien und zahlreiche weitere. "Wenn ich mir die alle anhefte, kippe ich vornüber um", sagt sie lachend. Weil sie ihre eigene Stimme nur noch schlecht hört, spricht sie sehr laut, ihre Sprache ist von den vielen Berliner Jahrzehnten gefärbt. Hanna Podymachina ist eine sehr einnehmende Frau.
Viele Male hat sie ihre Geschichte vor Schulklassen und Veteranen erzählt, inzwischen fällt ihr das immer schwerer. Zuweilen entgleiten ihr Erinnerungen an Namen und Orte, manchmal weiß sie mitten im Satz nicht mehr, wie sie ihn zu Ende bringen soll.
Als Podymachina zum ersten Mal in das Land kam, das sie später mit Ehrungen überhäuft hat, war sie zehn Jahre alt. Ein Jahr nach Hitlers Triumph 1933 musste sie mit ihrer Familie aus Berlin emigrieren, der Vater war Kommunist und Jude. Sie ging in Moskau zur Schule, lernte Russisch und lebte sich schnell ein. Nachdem die Wehrmacht im Sommer 1941 die Sowjetunion überfiel, meldete sich die 17-Jährige zum Fronteinsatz.
So wie Podymachina haben tausende Emigranten gegen Nazi-Deutschland gekämpft. Manche trugen Uniformen der Alliierten, andere schlossen sich Partisanengruppen an. Einige von ihnen sind Mitglieder des nach der deutschen Wiedervereinigung gegründeten DRAFD e.V., ein Akronym für "Verband Deutscher in der Résistance, in den Streitkräften der Antihitlerkoalition und der Bewegung Freies Deutschland". Von den einst 300 Mitgliedern sind inzwischen zwei Drittel tot.
Alter nimmt Erinnerung
André Lohmar ist der Sprecher des Verbands, das Verfassen von Nachrufen ist eine seiner Hauptaufgaben. "Es wird immer schwieriger, Mitglieder zu finden, die vor Publikum von ihrem Kampf gegen Hitlerdeutschland erzählen können", sagt er. Nicht nur der Tod sei daran schuld, das Alter nehme vielen die Erinnerung. Podymachina gehört zu den wenigen, die noch erzählen können, auch wenn Lohmar hin und wieder Stichworte gibt und sie ergänzt.
Podymachina hat während des Zweiten Weltkriegs keinen Schuss abgegeben. Mit Hilfe von Lautsprechern verbreitete sie selbstverfasste Propaganda von Lastwagen, Bussen und sogar einem Doppeldecker-Flugzeug rüber zu den Stellungen der Deutschen.
Sie folgte dem Frontverlauf und infizierte sich in Bessarabien, dem heutigen Moldawien, mit Malaria. Leichen trieben im Fluss, in dem sie badete. Das Kriegsende erlebte die damals junge Frau in einem Wiener Lazarett, wo sie sich von der Malaria erholte. Danach kehrte sie in das zerstörte Berlin zurück. Podymachina erzählt davon unbeteiligt, als habe der Wahnsinn des Krieges oder das hundertfache Erzählen davon sie gleichgültig gemacht.
André Lohmar sagt, vor einigen Jahren noch hätten einige Mitglieder im Verein so mitreißend erzählen können, "dass es einem die Rückenhaare aufstellte". Aber mit der Erinnerung lässt auch die Gegenwart des Erlebten nach. Auch das macht es inzwischen schwierig, Mitglieder für Vorträge in Schulen zu finden.
Lohmar, 71, nennt sich "einen von den Jüngeren" im Verein. Sein Vater kämpfte in der Résistance gegen die deutschen Besatzer und starb 1976. "Als meine Eltern noch lebten, hatte ich kaum Interesse für ihre Vergangenheit und habe viele Fragen nicht gestellt, die ich heute stellen würde". Er gehört zu den wenigen Kindern von Widerstandskämpfern, die sich für den Verein engagieren. "Wir haben ansonsten keinen Nachwuchs", sagt Lohmar. Im vergangenen Jahr haben die Vereinsmitglieder deshalb beschlossen, den Verein aufzulösen und der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten" beizutreten.
Lohmar begleitet die Auflösung des Vereins, überträgt das Archiv und beantwortet Briefe, die DRAFD noch erreichen. "Wir haben gute Arbeit geleistet", sagt er: "Viele unserer Mitglieder konnten wir als Zeitzeugen an Schulen vermitteln, wir haben Ausstellungen organisiert und die Erinnerung an den Widerstand am Leben erhalten." Das sei nicht immer einfach gewesen, besonders in den ersten Jahren nach der Wende sei das Erinnern an kommunistische Widerstandskämpfer in Deutschland kaum noch gepflegt worden.
Viele Emigranten, die sich aus freien Stücken zum Kriegsdienst meldeten, wurden nicht an die Front zum Kampfeinsatz geschickt. Die Tatsache, dass sie die Sprache des Feindes sprachen, machte sie wichtig für Übersetzungsdienste, Aufklärung und Propaganda. Viele Deutsche in der Sowjetunion, später organisiert im kommunistisch dominierten Nationalkomitee Freies Deutschland, sollten später Schlüsselpositionen in dem besetzten Land einnehmen. So wie Peter Florin, der die DDR bei den Vereinten Nationen in New York vertrat und bis 1989 ihr stellvertretender Außenminister war.
Im Herbst wird er 90 Jahre alt, gemeinsam mit seiner Frau lebt er in einem Berliner Seniorenheim. Florin erzählt bereitwillig: Als Sohn eines kommunistischen Reichstagsabgeordneten emigrierte er im Frühjahr 1933 mit seinen Eltern zunächst nach Paris. Zwei Jahre später kam Florin nach Moskau. Dort wohnte der 14-Jährige im berüchtigten Hotel Lux, wo viele prominente Emigranten zwar Obdach, aus Furcht vor dem Geheimdienst Stalins aber keine Ruhe fanden. "Manchmal verschwanden nachts Leute, die wir nie wieder sahen", sagt Florin. Er lernte Russisch und machte Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Wolfgang Leonhard und dem späteren Stasi-General Markus Wolf.
"Einen Tag nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion habe ich mich in einem Rekrutierungsbüro gemeldet", sagt er. Der Deutsche mit dem perfekten Russisch wurde als Politoffizier nach Sibirien entsandt. Kurz darauf arbeitete Florin als Sprecher beim Radio, damit galt er als unabkömmlich und musste keinen Kriegsdienst fürchten. Dabei wollte Florin genau das und sprang wenig später mit dem Fallschirm über besetztem weißrussischem Gebiet ab. Sein Auftrag lautete, sich Partisanenverbänden anzuschließen und Aufklärungsarbeit zu leisten.
Bewusste Gefährdung
Florin lancierte Flugblätter an Weißrussen, die für Deutsche arbeiteten. Dass er sie damit in Gefahr brachte, sei ihm bewusst gewesen, eine Alternative habe er aber nicht gesehen: "Zu einem Dorf in der Nähe hatten wir heimliche Kontakte. Als die Deutschen das erfuhren, haben sie es nachts umstellt, die Einwohner in eine Kirche getrieben und sie angezündet." Nach der Befreiung Weißrusslands folgte er der Roten Armee als Rundfunksprecher, während eines Aufrufs an deutsche Soldaten erfuhr er von der Kapitulation.
André Lohmar sagt, Ziel des Vereins sei immer gewesen, an diese Formen des Widerstands zu erinnern. "Wir wollten zeigen, dass Widerstand nicht nur die adligen Offiziere vom 20. Juli 1944 geleistet haben."
Während sich die DDR später zum alleinigen Hort des Antifaschismus erklärte und jede Form von Widerstand proletarisierte, wurde in der Bundesrepublik mit Widerstand oft nur der Kreis um Stauffenberg und die Weiße Rose assoziiert. Mit den emigrierten Deutschen wurde dagegen gefremdelt, zumal viele von ihnen Kommunisten waren und teils hohe Ämter in der DDR innehatten.
Besonders die Arbeit des Nationalkomitees Freies Deutschland sei lange umstritten gewesen, sagt Johannes Tuchel, Leiter der Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Die Gedenkstätte sei noch in den 90er Jahren dafür kritisiert worden, sich für die Anerkennung jener Widerstandskämpfer einzusetzen. Tuchels Bildungsstätte übernimmt nun das Ausstellungsmaterial, das DRAFD in den vergangenen 19 Jahren angesammelt hat.
Eine Nachlassregelung, mit der Lohmar sehr zufrieden ist. Neben ihm sitzt Hans-Joachim Gutmann, dessen Vater als Freiwilliger in der britischen Armee gegen Nazideutschland kämpfte. "Er hat seine Familie im Vernichtungslager Sobibor verloren", sagt Gutmann. Sein Vater Heinz durchlebe derzeit schwere Tage: In München steht der Prozess gegen John Demjanjuk vor dem Abschluss, der in Sobibor Aufseher gewesen sein soll. Heinz Gutmann ist einer der Nebenkläger. Vermutlich ist es das letzte Mal, dass sich ein Täter der Shoah vor einem deutschen Gericht verantworten muss, denn eine ganze Generation stirbt: Opfer, Täter - und die letzten Widerstandskämpfer.
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