Zweifeln im Alltag: Alles zu viel und nichts genug
Unsere Kolumnistin findet, dass es hier gefährlich ist. Nicht so sehr auf der Mauer, mehr in Gedanken.
I ch hab Lust, auf das Mäuerchen zu klettern und meine Beine über dem Abgrund baumeln zu lassen und dem Himmel dabei zuzusehen, wie er pink wird“, sagst du, und ich halte das für eine gute Idee. Also klettern wir und lassen baumeln und sehen zu. Es ist schön. Du fragst, was ich denke, „Ich suche dieses Gefühl“, sage ich, „diese Unruhe, die uns alle verbindet.“ Ein paar Schritte weiter machen Leute Selfies vor dem Sonnenuntergang.
Du fragst, was ich genau meine, ich wüsste das auch gern. Es fängt damit an, dass wir alle ständig das Gleiche tun: Augen auf, aufstehen, anziehen, eine Tasche packen, arbeiten, einkaufen, Kühlschranktür auf und wieder zu, jemanden treffen und sagen, dass es schon okay geht, eine Zigarette rauchen, besprechen, wie kaputt alles ist – alles, aktuell: der Krieg, die Kriege, das Klima, die Waffengeschäfte, die Inflation –, fragen, wie das Kaputte repariert werden könnte und antworten, dass wir das heute Abend nicht mehr lösen werden und sowieso so erschöpft sind, seufzen, umarmen, nach Hause, ausziehen, hinlegen, die Blumen am Bett mögen, Augen zu. Und es hört auf mit: Wollen wir das so?
Wir beten uns vor, dass wir uns strecken müssen, nach den besseren Kirschen. Wir haben das so gelernt. Dann wird’s schon werden, dann ist es am Ende genug. Besserer Job, bessere Wohnung, besseres Outfit, bessere Beziehung. Aber: Wir strecken uns, wir klemmen uns einen Nerv ein, wir kriegen die Kirschen und trotzdem geht diese Unruhe einfach nicht weg. Alles ist zu viel, nichts ist genug. Ja. Und dann?
Du legst den Arm um mich und wir fühlen uns schrecklich verloren, dabei waren wir doch überzeugt, das hätte sich mit der Pubertät erledigt. Hat es aber nicht, obwohl wir heute besser wissen, wer wir sind: Leute, die nicht an Rente denken können, ohne zu googeln, welche Teile der Welt von Wasser verschluckt sein werden, wenn wir uns irgendwann nicht mehr gut bücken können. Leute, die auf einem Mäuerchen sitzen und das Wetter mit „im Schatten ist es schon noch etwas kühl“ kommentieren. Wir schauen auf unsere Füße und sind ratlos.
Ich finde, dass es hier gefährlich ist. Nicht so sehr auf der Mauer, mehr in Gedanken. Gefährlich nahe am Erstarren, an Zynismus und an Hilflosigkeit – an diesem Kann-man-nichts-Machen, über das wir uns bei anderen so aufregen.
Ich sage: „Manchmal frage ich mich, was wir hier eigentlich machen. Also – wofür?“ und du zuckst innerlich mit den Schultern. Draußen bewegst du dich nicht. Du willst mutig sein, weil immer jemand von uns mutig bleiben muss, im Kleinen und im Großen. Deswegen zuckst du nicht, deswegen traust du dich, eine Antwort zu haben, deswegen sagst du: „Für das. Für das Zweifeln und Infragestellen und nicht damit aufhören. Fürs Unruhigsein, weil nichts mehr ruhig ist. Bis uns auffällt, dass wir das so nicht mehr wollen, und uns einfällt, was die Alternative sein soll. Und wir dann mehr für sie tun, als reden. Hoffentlich.“
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