Zweifel an der Methode: „Gewalt an Schulen geht zurück“
Kriminologe Christian Pfeiffer zweifelt an der Aussagekraft der Hamburger Schulgewalt-Statistik: Die hat 70 Prozent mehr Delikte registriert.
taz: Herr Pfeiffer, laut Hamburger SPD-Senat sind die gemeldeten Straftaten an Schulen in diesem Jahr massiv gestiegen. In Niedersachsen gibt es fast 20 Prozent weniger Gewalt. Wie kann man das erklären?
Christian Pfeiffer: Auch in Niedersachsen gab es mal kurzfristig einen deutlichen Anstieg der Zahlen. Das war im Jahr 2003, nachdem das niedersächsische Kulturministerium per Runderlass alle Schulen aufgefordert hatte, Taten zu melden. Nicht die reale Gewalt hatte zugenommen, nur ihre Sichtbarkeit. Die tatsächliche Gewalt an Schulen in Niedersachsen sinkt kontinuierlich. Das ist auch der bundesweite Trend. Ich vermute, dass es in Hamburg im letzten Jahr vereinfachte Wege gab, Straftaten zu melden, oder die Behörde die Schulen zusätzlich dazu motiviert hat. Es gibt keine plausible Erklärung dafür, dass ausgerechnet in Hamburg die Schüler plötzlich rabiater wurden.
Könnte es nicht auch umgekehrt sein, dass Gewalttaten in Niedersachsen einfach zu selten gemeldet werden?
Nein, denn wir haben eine verlässliche Gegenkontrolle. Wir erforschen bundesweit seit dem Jahr 1998 in verschiedenen Regionen Deutschlands mit Dunkelfeldstudien, ob Schüler Opfer von Gewalt sind oder Taten begangen haben. Die letzte Dunkelfeldstudie haben wir 2013 erhoben. Darin bestätigt sich erneut, dass die Gewalt an Schulen abnimmt. Außerdem gibt es Statistiken der kommunalen Unfallversicherer. Wann immer Schulen einen Arzt zu Hilfe rufen, weil ein Schüler durch eine Gewalttat stark verletzt wurde, wird das protokolliert. Auch sie belegen einen starken Rückgang.
Sind in ländlichen Strukturen, wie in Teilen Niedersachsens, weniger Hilfsangebote vorhanden, sodass Schulen versuchen, Probleme allein zu lösen?
Nein, eher im Gegenteil. In ländlichen Strukturen weiß man, wo man sich Hilfe holt. Gewalttaten werden schneller öffentlich gemacht. Das dämpft den Tatendrang von Kindern und Jugendlichen. In der Anonymität der Großstadt gehen Täter und Opfer eher unter.
Hamburg verzeichnet seit Jahren mehr gemeldete Straftaten an Schulen. Leistet Hamburg im Gegenteil zu Niedersachsen schlechtere Präventionsarbeit?
Generell ist die Gewalt an Schulen in Großstädten höher. Das bedeutet aber nur, dass es in Hamburg schon immer ein höheres Niveau gegeben hat. Es heißt nicht, dass die Brutalität innerhalb eines Jahres um 70 Prozent ansteigt. Der Anstieg der Zahlen dürfte mit einer Änderung der Meldemethode zusammenhängen.
In Hamburg gibt es seit 2008 einen Gewaltmeldebogen für Schulen im Internet, in Niedersachsen gibt es das nicht. Ist eine solche niedrige Schwelle sinnvoll?
Die Frage ist, was die Schulbehörde mit dieser lückenlosen Dokumentation macht. Wird sie vorbeugend einsteigen oder ist das eine reine Verwaltung von Statistiken?
Welche Präventivmaßnahmen sind denn notwendig?
70, Jurist und Sozialpsychologe, ist Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen in Hannover. Schwerpunkte seiner Forschung sind Jugendgewalt, Auswirkungen des Medienkonsums und Opfererfahrungen. Er war mit einer Studie zum Missbrauch innerhalb der katholischen Kirche beauftragt, die sein Institut nach Kündigung der Kirche selbstständig weitergeführt hat. Von 2000 bis 2003 war er, SPD-Mitglied seit 1969, niedersächsischer Justizminister.
Wichtig ist, dass die Schulen genau hinschauen. Dazu gehört, dass den Opfern Mut gemacht wird, die Taten nicht zu verheimlichen. So ist die Anzeigebereitschaft der Jugendlichen in Niedersachsen in den letzten Jahren gestiegen.
Warum gibt es weniger Brutalität an Schulen?
Nicht nur die Gewalt an Schulen geht zurück, sondern die Jugendlichen sind insgesamt friedfertiger. Der Hauptgrund dafür: In Deutschland schlagen immer weniger Eltern ihre Kinder. Wir haben 1992 und 2011 Menschen repräsentativ zu ihrer Erziehung befragt. Der Anteil derer, die völlig gewaltfrei erzogen wurden, hat sich verdoppelt. Gleichzeitig ist das massive Prügeln stark zurückgegangen und die elterliche Zuwendung hat deutlich zugenommen. Hinzu kommt, dass die Schulen viel zur Vorbeugung getan haben.
Sind schwere Gewalttaten weniger geworden oder nur kleinere Delikte?
Tötungsdelikte und schwere Raubdelikte sind noch stärker rückläufig als andere Taten. Die Vorfälle, bei denen Schüler krankenhausreif geschlagen wurden, sind seit 1997 um 56 Prozent zurückgegangen. Entgegen der öffentlichen Meinung und vielen Talkshows haben wir eine Abkehr von Brutalität.
Gibt es Formen der Gewalt unter Jugendlichen, die vermehrt auftreten?
Das Cyber-Mobbing ist ein Problem. Wir sind in niedersächsische Schulen gegangen und haben die Schüler gebeten, mit Klebern anonym auf der Tafel zu markieren, ob sie schon mal Opfer oder Täter des Cyber-Mobbings waren. Fast alle haben angegeben, Angst vor Internet-Mobbing zu haben. Viele waren bereits betroffen.
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