Zwei-Klassen-Justiz im Westjordanland: Gleiche Tat, unterschiedliche Strafe
Zwei Jugendliche werfen im Westjordanland Steine. Einer ist Palästinenser, der andere Israeli. Die juristischen Folgen sind sehr unterschiedlich.
BEIT UMMAR ap | Die Jungen waren beide 15 Jahre alt. Sie lebten nur wenige Minuten voreinander entfernt im Westjordanland. Und beiden wurde vorgeworfen, Steine auf Autos und Busse geworfen zu haben. Nur ein Tag lag zwischen den Vorfällen, aber es gab einen entscheidenden Unterschied, der über ihre Zukunft entschied: Der eine Junge war Israeli, der andere Palästinenser. Einer kam mit Hausarrest davon, der andere musste hinter Gitter.
Für die israelischen Siedler im Westjordanland gilt mehrheitlich das Zivilrecht, die Palästinenser dagegen unterstehen dem Militärrecht. Das wirkt sich auch auf die Strafverfolgung von Jugendlichen aus, von den Festnahmen über die Verurteilungen und das Strafmaß, wie aus Polizeistatistiken hervorgeht, die der Nachrichtenagentur AP vorliegen.
Danach wurden in den vergangenen sechs Jahren nur 53 Jugendliche aus den jüdischen Siedlungen wegen Steinwürfen festgenommen. 89 Prozent von ihnen kamen ohne Anklage frei, sechs wurden angeklagt. Vier von ihnen wurden für „schuldig ohne Schuldspruch“ befunden, eine übliche Strafe für israelische Jugendliche, um ihnen einen Akteneintrag zu ersparen. Einer der Angeklagten wurde freigesprochen, der sechste Fall wurde im Oktober noch vor Gericht verhandelt. Aktuellere Informationen lagen nicht vor.
Im Gegensatz dazu wurden im selben Zeitraum 1142 palästinensische Jugendliche wegen Steinwürfen festgenommen und 528 angeklagt. Alle wurden verurteilt. Die üblichen Strafen betragen in diesen Fällen drei bis acht Monate Haft in einem Militärgefängnis. Die Polizeistatistiken sind nicht vollständig, die Unterschiede im Umgang mit israelischen und palästinensischen Jugendlichen aber klar.
Das israelische Justizministerium erklärte, die Zahlen verdeutlichten, dass Palästinenser häufiger Steine werfen als Israelis. „Obwohl sich die Rechtssysteme unterscheiden – Militärgericht gegenüber Zivilgericht – werden die Gesetze unvoreingenommen umgesetzt“, sagte der stellvertretende Staatsanwalt Jehuda Schefer im Westjordanland.
Systematische Unterscheidung
Kritiker werfen Israel vor, Taten von israelischen Minderjährigen als Fehltritte zu bewerten, während palästinensische Altersgenossen wie Schwerverbrecher behandelt würden. „Jeder weiß, dass es ein Problem gibt mit der Behandlung von Minderjährigen im Westjordanland, eine systematische Unterscheidung zwischen israelischen und palästinensischen Minderjährigen“, erklärte der israelische Rechtsanwalt und Menschenrechtsaktivist Michael Sfard. „Jetzt haben wir Zahlen, die das belegen.“
Zurück zu dem israelischen Jungen, der am 20 Februar 2012 gemeinsam mit anderen Jugendlichen an der Einfahrt zur Siedlung Bat Ajin zwischen Jerusalem und Hebron einen Bus mit Steinen bewarf, wie aus den Polizeiunterlagen hervorging. Der Bus wurde beschädigt, der arabische Fahrer blieb unverletzt. Der Junge wurde gemeinsam mit seinem Vater aufs Revier gebracht, machte aber keine Aussage. Er verbrachte die Nacht auf dem Revier und wurde dann vier Tage unter Hausarrest gestellt. Eine Anklage gab es nicht.
Am folgenden Tag warf der palästinensische Junge Steine auf Autos, die an seiner Heimatstadt Beit Ummar vorbeifuhren. Vier Wagen wurden beschädigt, auch hier gab es keine Verletzten. Der Vorfall wurde gefilmt. Zwei Wochen später traten israelische Soldaten die Tür zum Zimmer des Jungen ein, trugen ihn in ein Fahrzeug, verbanden ihm die Augen und fesselten ihm die Hände. Er wurde von Soldaten ins Gesicht geschlagen und mit zehn anderen palästinensischen Minderjährigen in die Zelle eines Militärgefängnisses gesteckt. Erst mehr als neun Monate später kam er frei.
Der israelische Junge wurde später wieder festgenommen. Diesmal soll er zwei Palästinenser mit Pfefferspray angegriffen haben. Er hatte außerdem ein Messer und eine Schleuder bei sich. Während der gerichtlichen Anhörung kamen die Steinwürfe wieder zur Sprache und er wurde wegen beider Vergehen angeklagt.
Hausarrest und Schulbesuch
Der Junge bekannte sich schuldig, die Palästinenser angegriffen haben, bestritt aber die Steinwürfe. Er wurde neun Monate unter Hausarrest gestellt. Zuhause lernte er für seinen Schulabschluss und durfte in den letzten drei Monaten des Arrests die Schule besuchen. Inzwischen ist er wieder frei. Das Verfahren wegen der Steinwürfe ist noch nicht abgeschlossen.
Für den palästinensischen Jungen gab es keine Nachsicht. Während viele palästinensische Häftlinge sich im Gegenzug für eine reduzierte Strafe schuldig bekennen, plädierte er auf nicht schuldig. Nach neuneinhalb Monaten Haft wurde er unter Hausarrest gestellt. Sieben Monate später wurde er schuldig gesprochen und zu einer Haftstrafe in Höhe der bereits verbüßten Haft verurteilt.
In dem Urteil kritisierte der Richter die Polizeibeamten, die den Jungen nicht gefragt hätten, ob er seine Rechte verstanden habe und ihm nicht die Gelegenheit gegeben hätten, mit seinen Eltern oder einem Anwalt zu beraten. Die israelische Polizei habe offenbar nicht verstanden, dass jugendliche Verdächtige mit mehr Feingefühl verhört werden müssten, schrieb Militärrichter Schahar Greenberg.
Der israelische Junge schloss sich einer extremistischen Gruppe an und zieht von einem illegalen jüdischen Außenposten zum nächsten. Er bezeichnet sich als Krieger im ideologischen Kampf um die jüdische Kontrolle über das Westjordanland. Sein palästinensischer Altersgenosse schaffte den Anschluss in der Schule nicht mehr und hat keinen Abschluss. Sein Anwalt hat Berufung gegen die Verurteilung eingelegt. Die Staatsanwaltschaft fordert eine noch höhere Strafe von weiteren sechs Monaten Haft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene