Zwangsarbeiterinnen-Kinder in Hamburg: Von Nazis ermordet
Babys von Ost-Zwangsarbeiterinnen ließ das NS-Regime sterben oder brachte sie aktiv um. Die Hamburgerin Margot Löhr hat 418 dieser Viten erforscht.
Gleich hinter den Steinen: gelbe Reihenhäuser mit Schaukeln und Sandkästen in den Gärten, hier und da eine St.-Pauli-Flagge – mit Totenkopf. Wo heute diese Siedlung steht, befand sich von 1943 bis 1945 ein Zwangsarbeiterinnenlager. Seine 750 Insassinnen mussten für die deutsche Rüstungsindustrie arbeiten, für die Hanseatische Kettenwerk GmbH (HAK) und die Deutsche Meßapparate GmbH (Messap).
Die Kinder von Frauen aus besetzten Ländern wie den Niederlanden, Belgien oder Frankreich, die dem nationalsozialistischen „Arier“-Ideal nahe kamen, durften leben; ihre Mütter wurden an der Abtreibung gehindert. Dazu gedrängt wurden dagegen Polinnen und „Ostarbeiterinnnen“ aus Weißrussland oder der Ukraine. Diese Frauen beurteilte das „Rasse- und Siedlungshauptamt“ der SS anhand eines Systems, das von „rein nordisch“ bis „rein ostisch“ reichte.
„Zwischen 1943 und 1945 gab es allein in der Frauenklinik Hamburg-Finkenau 545 Abtreibungen und 557 Entbindungen bei Zwangsarbeiterinnen“, sagt Margot Löhr. Die Psychologin hat 2018 die erwähnten 49 Stolpersteine verlegen lassen – die ersten für Hamburger Zwangsarbeiterinnen-Kinder überhaupt. Darüber hinaus schreibt sie die Biografien auch von anderen mit Stolpersteinen geehrter Menschen, ehrenamtlich für die Landeszentrale für Politische Bildung und das Institut für die Geschichte der deutschen Juden. Kürzlich hat sie die Lebensläufe von mehr als 400 solcher Kinder erforscht und in Buchform veröffentlicht.
Margot Löhr: „Die vergessenen Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Hamburg“. Zwei Bände à 350 Seiten, je 3 Euro, hg. von der Hamburger Landeszentrale für politische Bildung.
Michael Holtmann: „Wohnungsbau für die Rüstungsindustrie – Siedlungen für das Hanseatische Kettenwerk und die Messap“. Neuauflage 2020, 42 Seiten, 4,80 Euro, hg. von der Willi-Bredel-Gesellschaft/Geschichtswerkstatt (www.bredelgesellschaft.de)
Über die Väter schwiegen sich die Frauen damals aus. Die meisten Kinder wurden unehelich geboren, und ob sie durch Vergewaltigung, Liebesbeziehungen zu anderen Zwangsarbeitern oder Deutschen entstand, blieb im Dunkeln – zumal Deutsche keinen Kontakt zu Zwangsarbeitern haben durften.
Also versuchten die Frauen ihre Kinder allein durchzubringen. Zwar gab es „Ausländerkinder-Pflegestätten“, in denen die Kleinen beaufsichtigt wurden. Aber das war die Ausnahme. Nur wenn der Lagerkommandant es erlaubte, konnten sich die Frauen mit Aufsicht und beim Stillen abwechseln. Oft aber zwang man die Mütter schnell wieder in Zehn- bis Zwölf-Stunden-Schichten und legte die Babys in irgendeine Ecke oder einen zugigen Raum. Die Folgen: Tod durch schwere Mangelernährung, Lungenentzündung, Ersticken an Erbrochenem.
Beim Töten durch mangelnde Aufsicht blieb es nicht. Da war zum Beispiel Walter Kümmel, Kommandant des KZ-Außenlagers Hamburg-Eidelstedt, 1946 wegen Misshandlung verurteilt, 1952 vorzeitig entlassen und 1970 erneut angeklagt: Zwangsarbeiterinnen hatten ihn bei der Ermordung zweier Neugeborener beobachtet. „Seine Beteiligung an der Tötung wurde vom Gericht nur als Beihilfe zum Mord gewertet“, berichtet Margot Löhr. „Es hieß, Kümmel seien keine niedrigen Beweggründe nachzuweisen und die Tat seit 1960 verjährt.“ Später wurde ein NDR-Interview öffentlich, in dem sich Kümmel auf einen „Geheimbefehl“ zur Ermordung der Babys berief, dessen Urheber er nie nannte.
Auch Karl Kemmernich wurde nie belangt. Zwar hatte eine KZ-Insassin gesehen,wie der Sanitäter ein Neugeborenes im Außenlager Hamburg-Dessauer Ufer ermordete. Sie sagte auch vor Gericht aus – zur Zeit der Kriegsverbrecherprozesse war Kemmernich aber schon tot.
Der Assistenzarzt Otto Blumental indes unterschrieb im Krankenhaus Langenhorn zahlreiche Sterbeurkunden von Zwangsarbeiterinnen-Babys. Als auf Betreiben der KZ-Gedenkstätte Neuengamme 1988 Vorermittlungen begannen, wollte Blumental nicht zuständig gewesen sein, konnte sich angeblich nur schwach an unterernährte Kinder erinnern.
„Ich kenne keinen Fall, in dem ein Zwangsarbeiterlager-Kommandant juristisch belangt worden wäre“, sagt die Hamburger Historikerin Friederike Littmann. Sie hat intensiv über Zwangsarbeiter in Hamburgs Kriegswirtschaft geforscht. Kaum ein Aspekt der NS-Zeit sei so gut dokumentiert wie die Zwangsarbeit, sagt sie, und dazu zählten auch die Babys.
246 von ihnen wurden auf dem Hauptfriedhof Hamburg-Ohlsdorf bestattet – 1959 allerdings die meisten dieser Gräber eingeebnet: die höchstens 15-jährige Kindergräber-Ruhezeit war um. Erst nach dem „Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ von 1965 verlegte man die verbliebenen zwölf Gräber auf das NS-Opfern gewidmete Ehrenfeld des Friedhofs.
Die kurzen Leben möglichst vieler dieser in Hamburg geborenen und zu Tode gekommenen Babys zu ergründen − das ist eben das Verdienst Margot Löhrs. „Bei Recherchen zu Langenhorn stieß ich immer wieder auf Babys, bei denen als Wohnort ein Lager angegeben war. Das wollte ich genauer wissen.“
Acht Jahre lang schlug sie in Archiven, Krankenhaus-, Geburts- und Sterbelisten nach und stellte insgesamt 418 Biografien in Hamburg gestorbener Kinder zusammen. Darunter sind nicht nur die Kinder auf den 49 Stolpersteinen. Löhr hat auch jene berücksichtigt, die ermordet wurden, noch bevor sie Namen bekamen: Kinder, die dem Regime so wenig wichtig waren, dass sich nicht einmal ein Arzt ins Lager bemühte, wenn dort eines starb. Die Sterbebescheinigung unterschrieb dann einfach der Lagerkommandant.
Allein in Hamburg existierten 1.500 Zwangsarbeiterlager, es muss also sehr viele Kommandanten gegeben haben. Die Mitverantwortung reichte so tief in die Bevölkerung hinein, wie das Wissen um die 400.000 bis 500.000 Zwangsarbeiter die in Hamburger Fabriken, Haushalten oder auf Bauernhöfen arbeiteten und deren Lager oft gut einsehbar waren.
So auch aus der „Schwarzwaldsiedlung“, die einst gegenüber den Langenhorner Zwangsarbeiterbaracken stand – und heute gegenüber den 49 Stolpersteinen. Mit lang heruntergezogenen, holzverkleideten Giebeln und Fachwerkbalken passen sie kaum in den Norden.
Heimatstil-Häuser für zugereiste Fachkräfte
In der Tat entstanden diese Häuser, wie auch die nahe „Strohdach-Siedlung“, ab 1935/36 für höhere Angestellte der Rüstungsindustrie. Die Firma HAK produzierte Munitionshülsen, die Messap Zeitzünder. Und weil an letzterer die Schwarzwälder Firma der Gebrüder Junghans beteiligt war, bauten sie für ihre zugereisten Fachkräfte Häuser im Schwarzwaldstil. Denn viele Männer waren an der Front, Arbeitskräfte rar, und man wollte die Leute auch durch arbeitsplatznahes Wohnen halten. Sie hatten es idyllisch, die Wohnungen sind bis heute beliebt.
Unter den heutigen Bewohnern findet sich auch eine „Stolperstein“-Patin. Und doch bleibt der Ort unbehaglich. Vielleicht, weil vom Leid in den längst abgerissenen Baracken eben nur noch nur „Stolpersteine“ zeugen, während die Architektur im NS-Heimatstil bis heute steht. Vielleicht auch wegen der bedrückenden Nähe, die geherrscht haben muss zwischen den Profiteuren und denen, die aus ihren Dörfern gezerrt und nach Deutschland verschleppt wurden.
So wie Zofia Lipka: Bei Kielce in Südostpolen geboren, wurde sie 1943 von deutschen Soldaten auf einen LKW verladen und nach Hamburg verfrachtet. Dort musste sie Deportationszüge reinigen, die aus dem Osten zurückkamen. Kurz vor der Geburt ihres ersten Sohns versetzte man sie zur Deutschen Kap-Asbest-Werke AG, wo sie ohne Schutzausrüstung arbeitete. Ihr 1944 geborener Sohn Wlodzimierz wurde wegen Mangelernährung mehrfach ins Krankenhaus Langenhorn gebracht, wo er mit fünf Monaten auch starb.
Nach dem Krieg als DP von Lager zu Lager
Als ihr zweiter Sohn Andrzej 1945 ins Krankenhaus sollte, weigerte sich die Mutter. Fürchtete, man werde das Kind zu Tode spritzen – und brachte es unter großen Mühen durch. „Im Lager war ich mir tagsüber selbst überlassen, meine Mutter konnte mich nur abends nach schwerer Arbeit stillen“, erzählt ihr Sohn, der heute deutscher Staatsbürger ist und mit dem deutschen Namen Andreas Schuster in Hamburg lebt.
Nach dem Krieg seien sie als Displaced Persons von Lager zu Lager gezogen, weil die Mutter nicht zurück nach Polen wollte. Denn dort wurden Repatriierte nach 1945 misstrauisch als „Verräter“ empfangen. Und Stalin schickte heimgekehrte Zwangsarbeiter oft als „Kollaborateure“ in sowjetische Lager. Zofia Lipka blieb im Westen, gebar weitere Kinder, heiratete einen Landsmann und starb 2002 mit 91 Jahren in Hamburg. Ihr Sohn war nie in Polen. „Das ist nicht meine Heimat, denn meine Eltern waren ja hier“, sagt der 75-Jährige.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos