Zustände im Kinderheim Jänschwalde: Kein Anspruch auf Wohlverhalten
Warum trifft es nach der Haasenburg mit „Neustart“ wieder ein Heim in Brandenburg? In der DDR herrschte der Anspruch, Menschen regelkonform zu ändern.
B randenburgs Jugendministerin Britta Ernst (SPD) hat zügig reagiert, seit die Vorwürfe zum Fall „Neustart“ bekannt wurden. Dass Missstände behoben, etwa Milchglasfolien an den Fenstern entfernt wurden, zeigt zugleich, dass an der Sache etwas dran ist. Es ist richtig, dass die strenge Eingangsphase untersagt wurde, der Aufnahmestopp ist folgerichtig. Und es ist gut, dass Ernsts Mitarbeiter ohne Erzieher mit den Bewohnern gesprochen haben. Gut wäre, sie auch zu fragen, ob sie dort bleiben möchten, und, falls nicht, Alternativen anzubieten.
Einige ehemalige Bewohner sagten der taz, das Heim gehöre geschlossen. Es gibt zwar auch Ehemalige, die im Netz schreiben, die harte Zeit dort habe ihnen geholfen. Das wiegt jedoch nicht auf, dass sich junge Menschen durch die Heimzeit schwer geschädigt sehen. Die Frage ist, ob dieser Ort dazu taugt, jungen Menschen ins Leben zu helfen.
Die Frage ist aber auch, warum es nach der Haasenburg wieder Brandenburg trifft. Heime mit umstrittenen Konzepten gibt es im ganzen Land. Aber bestimmte rigide Methoden, etwa entwürdigende Klopf-Regeln beim Toilettengang, trifft man selten. Auch die Beschreibung der Defizite der Jugendlichen lässt aufhorchen: „nicht sozialangepasst“, „Norm- und Regelverweigerung“. Das erinnert an die Definition der „Schwererziehbaren“ in der DDR. Die systematische Einordnung von Kindern in „schwererziehbar“ und „normal“ gab es nur dort, nicht in der BRD. So nachzulesen im Gutachten der Bundesregierung zur DDR-Heimerziehung. Auch im Westen gab es schlimme Heime, aber es gab auch Revolte und eine Phase der Aufarbeitung.
In der DDR, so das Gutachten, hatte der Staat den Anspruch, den sozialistischen Menschen zu erziehen. Die Idee: Menschen so zu ändern, dass sie sich nicht nur regelkonform verhalten, sondern die Regeln auch noch vernünftig finden – und dafür ihren Willen zu brechen. Heute haben Staat und Gesellschaft nicht das Recht dazu. Es verstößt gegen die Rechte von Kindern, ihnen mit Zwang Wohlverhalten abzuverlangen. Was vernünftige Regeln sind, gilt es immer wieder neu auszuhandeln.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz