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Zustände im Altenheim„Dem freien Markt geopfert“

Pflege-Missstände können durch Netzwerke und Mut zur Anzeige aufgeklärt werden – nicht aber die Ursachen dafür, sagt Pflege-Aktivist Reinhard Leopold.

Reinhard Leopold (zweiter von links) geht für gute Pflege auch auf die Straße. Bild: Schnase
Simone Schnase
Interview von Simone Schnase

taz: Herr Leopold, können Sie Menschen ruhigen Gewissens empfehlen, ihre Angehörigen im Alter in ein Pflegeheim zu schicken?

Reinhard Leopold: Es gibt durchaus Menschen, die in einem Pflegeheim regelrecht „aufblühen“, wenn sie so beispielsweise aus ihrer vorherigen Einsamkeit herauskommen. Andere möchten aber genau das nicht, sondern nur ihre Ruhe. Kaum ein Mensch tauscht aber freiwillig seine Unabhängigkeit und sein gewohntes Zuhause gegen ein relativ kleines, aber teures Zimmerchen. Und vor dem Hintergrund des herrschenden Pflege-Notstands und meinen persönlichen Erfahrungen kann ich gewiss keine Empfehlung dafür geben, im Alter in ein Pflegeheim zu gehen.

Die Altenpflegerin, die in der letzen Woche vom Landgericht Bremen verurteilt wurde, weil sie im Forum Ellener Hof eine Bewohnerin misshandelt hat, konnte nur durch eine versteckte Kamera überführt werden. Wie schwer ist es, Gewalt in der Pflege nachweisen zu können?

Für Angehörige und betroffene Menschen ist es so gut wie unmöglich, auf üblichem Wege Gewalt in der Pflege nachzuweisen. Sie sind meist Laien und können hinsichtlich einer mangelhaften Versorgung oder Gewalt lediglich Vermutungen haben.

Wie verhalten sich die Menschen, die feststellen, dass ihre Angehörigen mangelhaft gepflegt oder gar misshandelt werden – und wie sollten sie sich verhalten?

Die meisten Angehörigen trauen sich nicht, Mängel offen anzusprechen, geschweige denn, anzuzeigen – das ist das größte Problem. Denn nur Fehler, die bekannt sind, können abgestellt werden. Als ehemals betroffener Angehöriger ist es mir seinerzeit ähnlich gegangen. Erst später habe ich gelernt, dass man Probleme deutlicher ansprechen und deren Beseitigung fordern muss. Heute würde ich alle Möglichkeiten nutzen, um Beweise zu sammeln und zu dokumentieren. Außerdem ist es sehr wichtig, den Kontakt zu anderen Angehörigen aufzubauen. So können sie feststellen, ob sie ähnliche Probleme haben und sich zusammenschließen – das ist meist erfolgreicher als der Alleingang.

Das Verhalten der verurteilten Altenpflegerin wurde nicht nur im Forum Ellener Hof, sondern auch in anderen Einrichtungen, in denen sie gearbeitet hat, recht stillschweigend geduldet: Sie verlor zwar zahlreiche Arbeitsstellen schon nach kurzer Zeit wieder, wurde aber ansonsten nicht belangt und bekam immer wieder neue Jobs. Wie ist Ihre Erfahrung mit der Aufklärung von Missständen durch Heimleitungen oder Instanzen wie dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK)?

Bei den zuständigen Behörden und Institutionen muss leider festgestellt werden, dass Heimaufsichten, MDK, Polizei und Staatsanwaltschaft personell nicht ausreichend ausgestattet sind. Das führt dann zu solchen Merkwürdigkeiten, dass beispielsweise die Staatsanwaltschaft – trotz massiver Belege – das Verfahren einstellt „mangels hinreichenden Tatverdachts im Sinne einer hinreichenden Verurteilungswahrscheinlichkeit“. Gute Pflegeanbieter erkennt man nicht zuletzt an einem funktionierenden Qualitätsmanagement. Die Betonung liegt auf „funktionierend“, denn Qualität nur auf dem Papier nützt niemandem. Pflegekräfte decken leider aus Angst zu oft Fehler und Mängel und machen sich so mitschuldig. Manchmal ist Schweigen schon Gewalt.

Im Interview: 

Reinhard Leopold

58, engagiert sich seit 2002 im Bereich Pflege und Gesundheitspolitik. Er war Bewohner-Fürsprecher bei der Bremer Heimaufsicht und arbeitete an der 2013 von Transparency Deutschland herausgegebenen Schwachstellen-Analyse "Transparenzmängel, Betrug und Korruption im Bereich der Pflege und Betreuung" mit.

Nach persönlichen Erfahrungen als bevollmächtigter Sohn, der seine Eltern in verschiedenen Heimen begleitet hat, gründete er 2006 die Initiative "Heim-Mitwirkung", die unter anderem Unterstützer des bundesweiten "Bündnisses für gute Pflege" ist.

Die Anwältin der Pflegerin sprach von strukturellen Problemen, von Überlastung der Pflegenden durch Personalmangel. Das hieße, Gewalt in Pflegeheimen müsste an der Tagesordnung sein. Ist das so?

Fakt ist, dass der Personalmangel allgegenwärtig ist. Nun gibt es Menschen, die damit gut, andere weniger gut und manche überhaupt nicht klarkommen. Für eine vernünftige, menschenwürdige Pflege braucht man ausreichend Zeit. Ist die nicht vorhanden, kann das Voraussetzung für Gewalt sein. Wobei anzumerken ist, dass Gewalt nicht erst mit Schlägen anfängt. Psychische Gewalt kann manchmal sogar grausamer als körperliche sein.

Der Bundestag will 2015 das erste von zwei Pflegestärkungsgesetzen auf den Weg bringen, das vorsieht, die Leistungen für Pflegebedürftige und Angehörige auszuweiten. 20.000 zusätzliche Betreuungskräfte sollen eingestellt und ein Pflegevorsorgefonds eingerichtet werden. Ein richtiger Schritt?

Es ist ein erster richtiger Ansatz, aber es sind leider nur Trippelschritte. Die Leistungserhöhungen sind absolut nicht ausreichend. Vor allen Dingen der Vorsorgefonds wird von vielen Seiten sehr kritisiert. Selbst beim Koalitionspartner SPD gibt es Stimmen, die davor warnen, mit Versichertenbeiträgen am Kapitalmarkt zu spekulieren – es können im Zweifel verlorene Beiträge sein. Im Gesetzesentwurf ist weder etwas zur Verbesserung der Fachkräfte-Situation zu finden noch darüber, wie man Betrug und Korruption im Pflegebereich künftig unterbinden will.

Die Ausbildung zum Altenpfleger ist nicht gerade attraktiv – wenn zusätzliche Betreuungskräfte eingestellt werden sollen, müssen aber Auszubildende her. Sieht das Pflegestärkungsgesetz hier irgendwelche Maßnahmen vor?

Es gibt an keiner Stelle des Entwurfs einen Hinweis darauf, woher die 20.000 Betreuungskräfte kommen sollen und was gezahlt werden soll, damit irgendjemand überhaupt diesen Job machen will. Im Übrigen brauchen wir nicht mehr Laien und Lakaien, sondern mehr Professionalität in der Pflege. Der Kranken- und Pflegebereich wurde in den zurückliegenden Jahren durch eine völlig falsche Politik dem freien Markt geopfert. Die sozialen Notwendigkeiten blieben dabei unberücksichtigt.

Die "Heim-Mitwirkung"

Die Bremer "Heim-Mitwirkung" ist eine 2006 gegründete, unabhängige Selbsthilfe-Initiative zur Förderung und Stärkung der Rechte pflegebetroffener Menschen.

Mit Angehörigen und Ehrenamtlichen trifft sich die Ini an jedem zweiten Samstag im Monat im Bremer "Netzwerk Selbsthilfe" in der Faulenstraße 31.

Zur "Heim-Mitwirkung" gehört auch das gleichnamige, von Reinhard Leopold betriebene Internetportal, das über Neuigkeiten aus dem Bereich Pflege und Gesundheitspolitik informiert: www.heim-mitwirkung.de.

Pflegende Angehörige sollen ab 2015 größere finanzielle Unterstützung bekommen – wird sie sich dann tatsächlich spürbar verbessern?

Menschen, die ihren Beruf aufgeben, um einen nahen Verwandten oder Freund zu pflegen, landen früher oder später in Hartz IV – und die angekündigten finanziellen Mittel werden nicht wirklich eine andere Situation herbeizaubern. Abgesehen davon tragen Informationsdefizite und organisatorische Hürden mit dazu bei, dass auf bestehende Ansprüche verzichtet wird.

Sie haben einen guten Einblick in die Pflegesituation im Land Bremen. Sind die Menschen in Heimen und bei ambulanten Pflegediensten in Bremen gut aufgehoben?

Auch in Bremen gibt es zu wenig Fachpersonal. Grund dafür ist die Unattraktivität des Berufs. Die erwartete und geforderte Leistung wird zu schlecht bezahlt, zudem wird zu oft immer wieder nur befristet eingestellt. Teure Imagekampagnen und andere Werbeaktionen sind rausgeworfenes Geld, wenn nicht endlich der Beruf insgesamt aufgewertet wird. Die Wertschätzung der Pflegekräfte und ihrer Arbeitsleistung durch die Arbeitgeber ist zu gering bis nicht vorhanden. In der Bevölkerung hingegen ist das Ansehen von Kranken- und Pflegekräften, gleich nach Feuerwehrleuten, am größten.

Die Bremer Pflegeeinrichtungen haben im Januar nach einer Prüfung durch den MDK die Durchschnittsnote 1,4 erhalten – die schlechteste Note war eine 2,2. Das heißt, dass sogar das schlechteste Heim noch gut ist – wie kann das sein?

Das bisherige Bewertungssystem des MDK ist kläglich gescheitert. Das ist öffentlich und lange genug kritisiert und diskutiert worden. Ob das überarbeitete System realitätsnäher sein wird, darf bezweifelt werden.

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