Zurück an die Nordsee: Wo es am schönsten ist
Jeder wird irgendwo geboren. Doch viele halten es da nicht aus und fliehen in die großen Städte. Unser Autor ging nach Berlin und blickt zurück.
Der Abend war gut gelaufen. Die Bibliothek in der Innenstadt voll. Meine kleine, häufig zerstrittene, selten einige Familie war fast vollzählig erschienen. Vater, Mutter, Schwester, zwei Nichten, ein Neffe, eine Tante.
Nun stand ich auf der Dachterrasse des Hotels, in dem ich die nächsten zwei Nächte verbringen würde. Meine Schwester, die hier Empfangschefin ist, hatte mir den Schlüssel geborgt. Jens, ein alter Freund, war noch mitgekommen. Und die Veranstalterin des Abends. Wenige Dutzend Meter unter uns mündete die Elbe in die Nordsee, direkt neben der Kugelbake. Ein altes, hölzernes Seezeichen, das sich zum Wahrzeichen der Stadt hochgedient hat. Vor einer Stunde war es dunkel geworden, aber die Dämmerung hatte ihren Kampf mit der Nacht noch nicht ganz aufgegeben.
„Wenn man überall gewesen ist“, war plötzlich die Stimme der Veranstalterin zu hören, „dann sollte man vielleicht dahin zurückkehren, wo es am schönsten ist.“
Meinte die Frau etwa Cuxhaven? Hatte sie mir in den letzten zwei Stunden nicht zugehört? Eine Art professionelle Arroganz machte sich ganz schön breit in mir. Seit 2003 leide ich an Multipler Sklerose. Jedes Jahr wird das Laufen ein bisschen schwerer. Nach drei ineinander übergehenden Schüben im vorvergangenen Jahr bin ich auf einen Elektroscooter angewiesen. Von meinen Reisen hatte mich die Krankheit nicht abbringen können. Davon erzählte ich heute Abend. Über Singapur, Australien und Neuseeland.
Im Gespräch mit dem Publikum hatte ich dann noch ein bisschen geprahlt. Mit einem spontanen Picknick im Death Valley/Nevada zum Beispiel. Bei 52 Grad Celsius. Oder einer Schneescooterfahrt durch den kanadischen Winter. Einer Nacht in der frisch eröffneten Tibet-Bahn von Lhasa nach Peking. Oder von einem Spiel der ersten Rugby-Liga in Südafrika. Zum Schluss hatte ich mich noch fotografieren lassen, und den Cuxhavener Nachrichten und der Niederelbe Zeitung ein paar Fragen beantwortet.
Jetzt stand ich ein paar Dutzend Meter über der Elbmündung und spürte, dass routinierte Arroganz mich nicht weiterbringen würde. Nicht heute Abend. Nicht nach der Lesung in meiner Geburtsstadt am Ende der Welt. In die ich immer wieder zurückkehre, obwohl ich sie schon lange verlassen habe. In der ich es nie länger als drei Tage aushalte, obwohl ich peinlich darauf achte, dass sie bei jedem neuen Buch auf der Lesungsliste steht.
Rudi Kohr
Haben Sie schon einmal versucht, telefonisch die Behindertenbetreuung für eine Bahnreise von Berlin nach Cuxhaven zu organisieren? Egal, was im Internet steht, und egal, was Ihnen unterbezahlte Menschen in Callcentern erzählen – ohne ein bis zwei Nervenzusammenbrüche werden Sie es nicht schaffen.
„Ihr seht, Cuxhaven macht mich immer noch müde“, gähnte ich laut in die kleine Runde, um einen Grund zu haben, mich ins Bett zu verabschieden. Besonders gut geschlafen habe ich allerdings nicht.
Jeder wird irgendwann irgendwo geboren. Bei mir geschah das am 18. 1. 1966 in Cuxhaven, Stadtteil Sahlenburg. Weniger als einen Kilometer vom Wasser entfernt. Die Stadt ist ein sogenanntes „Mittelzentrum“, wofür im strukturschwachen Niedersachsen 48.000 Einwohner ausreichen. Flächenmäßig ist Cuxhaven sogar eine der drei größten Städte des Landes nach Hannover. Was aber in erster Linie daran liegt, dass in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg skrupellos eingemeindet wurde.
Dass ich hier nicht hingehörte, merkte ich schon in der Pubertät. Die anderen Altersgenossen begannen die Mädchen zu beeindrucken, indem sie Handball oder Fußball spielten, jeden Samstagabend in den Großraumdiscos der Umgebung feierten, oder sich in Drogenexperimente mit Apfelkorn und Bier stürzten.
Ich saß am liebsten zu Hause und las. Als die anderen sich Gitarren kauften und zusammen spielten, gründete ich meine erste Kabarettgruppe. Die anderen lungerten den ganzen Sommer am Strand zwischen den Strandkörben herum und folgten dem alten Lehrspruch ihrer Väter: „Zuerst den Korb knacken, und dann im Korb das Mädchen knacken.“ Ich hatte eine Sonnenallergie.
Die Mädchen waren meistens Kurzurlauberinnen aus dem Ruhrgebiet, die von ihren Eltern für die Reise in den Norden extra Ölzeug bekommen hatten. So was war nichts für jemanden, der im abgedunkelten Jugendzimmer Solschenizyn las. Dafür bekam ich Antje, eine schöne Lehrerstochter.
Vier Jahre bevor ich Cuxhaven verließ, war ich eigentlich schon weg. 1985 packte ich einen Koffer. Ein paar Stunden später kam ich am Bahnhof Zoo in Berlin an. Meine erste Unterkunft war ein Zimmer in Schlachtensee, vermietet von einer halbblinden 90-Jährigen. Natürlich wollte ich Schriftsteller werden. Nach einem halben Jahr hatte Antje mich verlassen, und ich begann mit dem Trinken. Kann sich das noch jemand unter 50 vorstellen? Eine Fernbeziehung ohne Handy und Skype aufrecht zu erhalten?
Helmut Kohl und die Mauer, beide noch da.
Ein paar Jahrzehnte später kann ich sagen: Ich bin tatsächlich Schriftsteller geworden. Habe einige Bücher geschrieben, und immer wieder Reisereportagen. Es gab ein paar Stellen, an denen ich tatsächlich das Gefühl hatte, im Paradies zu sein. Für ein paar Minuten. Oder auch Stunden.
Aber vielleicht hatte die Veranstalterin recht, als sie meinte, dass man irgendwann dahin zurückkehren soll, wo es am schönsten ist.
Im Moment bin ich noch zu jung. 2035, mit siebzig, lasse ich durchaus mit mir reden.
Um diesen Artikel mit den Worten meines Vaters Rudi zu schließen: „Du kannst den Mann aus dem Norden holen. Aber nie den Norden aus dem Mann.“
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