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Zurück an die NordseeWo es am schönsten ist

Jeder wird irgendwo geboren. Doch viele halten es da nicht aus und fliehen in die großen Städte. Unser Autor ging nach Berlin und blickt zurück.

„Wenn man überall gewesen ist, sollte man vielleicht dahin zurückkehren, wo es am schönsten ist“: Meinte die Frau etwa Cuxhaven? Foto: Jean-Philipp Baeck

Berlin/Cuxhaven taz | Anfang Mai hatte ich eine Lesung in Cuxhaven. „Scooterman – schwer behindert, schwer zu stoppen“ heißt mein aktuelles Buch. Kein großer Erfolg. Aber Grund genug, meinen Agenten so lange zu nerven, bis er mir knapp zwanzig Lesungen in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern organisierte. Um die letzte Reise hatte ich mit Zähnen und Klauen gekämpft. Denn die führte mich zum Abschluss an die Nordsee. Nach Cuxhaven, wo ich vor 50 Jahren geboren wurde.

Der Abend war gut gelaufen. Die Bibliothek in der Innenstadt voll. Meine kleine, häufig zerstrittene, selten einige Familie war fast vollzählig erschienen. Vater, Mutter, Schwester, zwei Nichten, ein Neffe, eine Tante.

Nun stand ich auf der Dachterrasse des Hotels, in dem ich die nächsten zwei Nächte verbringen würde. Meine Schwester, die hier Empfangschefin ist, hatte mir den Schlüssel geborgt. Jens, ein alter Freund, war noch mitgekommen. Und die Veranstalterin des Abends. Wenige Dutzend Meter unter uns mündete die Elbe in die Nordsee, direkt neben der Kugelbake. Ein altes, hölzernes Seezeichen, das sich zum Wahrzeichen der Stadt hochgedient hat. Vor einer Stunde war es dunkel geworden, aber die Dämmerung hatte ihren Kampf mit der Nacht noch nicht ganz aufgegeben.

„Wenn man überall gewesen ist“, war plötzlich die Stimme der Veranstalterin zu hören, „dann sollte man vielleicht dahin zurückkehren, wo es am schönsten ist.“

Meinte die Frau etwa Cuxhaven? Hatte sie mir in den letzten zwei Stunden nicht zugehört? Eine Art professionelle Arroganz machte sich ganz schön breit in mir. Seit 2003 leide ich an Multipler Sklerose. Jedes Jahr wird das Laufen ein bisschen schwerer. Nach drei ineinander übergehenden Schüben im vorvergangenen Jahr bin ich auf einen Elektroscooter angewiesen. Von meinen Reisen hatte mich die Krankheit nicht abbringen können. Davon erzählte ich heute Abend. Über Singapur, Australien und Neuseeland.

Im Gespräch mit dem Publikum hatte ich dann noch ein bisschen geprahlt. Mit einem spontanen Picknick im Death Valley/Nevada zum Beispiel. Bei 52 Grad Celsius. Oder einer Schneescooterfahrt durch den kanadischen Winter. Einer Nacht in der frisch eröffneten Tibet-Bahn von Lhasa nach Peking. Oder von einem Spiel der ersten Rugby-Liga in Südafrika. Zum Schluss hatte ich mich noch fotografieren lassen, und den Cuxhavener Nachrichten und der Niederelbe Zeitung ein paar Fragen beantwortet.

Jetzt stand ich ein paar Dutzend Meter über der Elbmündung und spürte, dass routinierte Arroganz mich nicht weiterbringen würde. Nicht heute Abend. Nicht nach der Lesung in meiner Geburtsstadt am Ende der Welt. In die ich immer wieder zurückkehre, obwohl ich sie schon lange verlassen habe. In der ich es nie länger als drei Tage aushalte, obwohl ich peinlich darauf achte, dass sie bei jedem neuen Buch auf der Lesungsliste steht.

Du kannst den Mann aus dem Norden holen. Aber nie den Norden aus dem Mann

Rudi Kohr

Haben Sie schon einmal versucht, telefonisch die Behindertenbetreuung für eine Bahnreise von Berlin nach Cuxhaven zu organisieren? Egal, was im Internet steht, und egal, was Ihnen unterbezahlte Menschen in Callcentern erzählen – ohne ein bis zwei Nervenzusammenbrüche werden Sie es nicht schaffen.

„Ihr seht, Cuxhaven macht mich immer noch müde“, gähnte ich laut in die kleine Runde, um einen Grund zu haben, mich ins Bett zu verabschieden. Besonders gut geschlafen habe ich allerdings nicht.

Jeder wird irgendwann irgendwo geboren. Bei mir geschah das am 18. 1. 1966 in Cuxhaven, Stadtteil Sahlenburg. Weniger als einen Kilometer vom Wasser entfernt. Die Stadt ist ein sogenanntes „Mittelzen­trum“, wofür im strukturschwachen Niedersachsen 48.000 Einwohner ausreichen. Flächenmäßig ist Cuxhaven sogar eine der drei größten Städte des Landes nach Hannover. Was aber in erster Linie daran liegt, dass in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg skrupellos eingemeindet wurde.

Dass ich hier nicht hingehörte, merkte ich schon in der Pubertät. Die anderen Altersgenossen begannen die Mädchen zu beeindrucken, indem sie Handball oder Fußball spielten, jeden Samstagabend in den Großraumdiscos der Umgebung feierten, oder sich in Drogenexperimente mit Apfelkorn und Bier stürzten.

Ich saß am liebsten zu Hause und las. Als die anderen sich Gitarren kauften und zusammen spielten, gründete ich meine erste Kabarettgruppe. Die anderen lungerten den ganzen Sommer am Strand zwischen den Strandkörben herum und folgten dem alten Lehrspruch ihrer Väter: „Zuerst den Korb knacken, und dann im Korb das Mädchen knacken.“ Ich hatte eine Sonnenallergie.

Die Mädchen waren meistens Kurzurlauberinnen aus dem Ruhrgebiet, die von ihren Eltern für die Reise in den Norden extra Ölzeug bekommen hatten. So was war nichts für jemanden, der im abgedunkelten Jugendzimmer Solschenizyn las. Dafür bekam ich Antje, eine schöne Lehrerstochter.

Vier Jahre bevor ich Cuxhaven verließ, war ich eigentlich schon weg. 1985 packte ich einen Koffer. Ein paar Stunden später kam ich am Bahnhof Zoo in Berlin an. Meine erste Unterkunft war ein Zimmer in Schlachtensee, vermietet von einer halbblinden 90-Jährigen. Natürlich wollte ich Schriftsteller werden. Nach einem halben Jahr hatte Antje mich verlassen, und ich begann mit dem Trinken. Kann sich das noch jemand unter 50 vorstellen? Eine Fernbeziehung ohne Handy und Skype aufrecht zu erhalten?

Helmut Kohl und die Mauer, beide noch da.

Ein paar Jahrzehnte später kann ich sagen: Ich bin tatsächlich Schriftsteller geworden. Habe einige Bücher geschrieben, und immer wieder Reisereportagen. Es gab ein paar Stellen, an denen ich tatsächlich das Gefühl hatte, im Paradies zu sein. Für ein paar Minuten. Oder auch Stunden.

Aber vielleicht hatte die Veranstalterin recht, als sie meinte, dass man irgendwann dahin zurückkehren soll, wo es am schönsten ist.

Im Moment bin ich noch zu jung. 2035, mit siebzig, lasse ich durchaus mit mir reden.

Um diesen Artikel mit den Worten meines Vaters Rudi zu schließen: „Du kannst den Mann aus dem Norden holen. Aber nie den Norden aus dem Mann.“

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4 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • Na deswegen gibt es in Cuxhaven ja auch ein Ringelnatzmuseum. http://www.ringelnatzstiftung.de/

     

    klar - "Wenn Kuddeldaddeldu so durch die Welten schifft…";()

     

    (ps auch wenn die tazis zu blöd waren -

    Über seine wunderbare Ausstellung seiner atemberaubenden Bilder -

    Trotz Hinweis zu berichten!

    Die Ausstellung "War einmal ein Bumerang. Der Maler Joachim Ringelnatz kehrt zurück" war bis zum 17. Juli im Kunstmuseum Solingen zu sehen. - Zentrum für verfolgte Künste

    (Die Nazis haben seine Bilder als entartete Kunst gebrandmarkt, teils vernichtet und ihn mittels Auftrittsverbots verhungern lassen!) http://www.verfolgte-kuenste.de/informationen/presse-2/ringelnatz-2016/ http://m.welt.de/?homescreen&wtmc=bookmark.safari.smartphone.ios..bookmark_safari_iphone

    (Aber so sind Landratten in der Dörferansammlung am Rande der Streusandbüchse Preußens!

    De weet von de Steenstraat nix af!;()(

  • Schon richtig. Ich für meinen Teil bin gar nicht erst weggegangen, trotz (oder gerade wegen) intellektuell-kreativer Neigungen. Ich merke oft, diejenigen, die in die großen Städte gingen, haben es leichter - leichter, Jobs zu finden, leichter, Gleichgesinnte zu finden oder jedenfalls die, die gleichermaßen auf der Flucht sind, und all das. Aber irgendwo habe ich immer das Gefühl, da fehlt denen was. Da kommen oft so Kommentare in der Richtung. "Ach, eines Tages gehe ich wieder zurück."

     

    Ich für meinen Teil lebe da, wo andere Urlaub machen. Wo es im Winter deprimierend sein kann, es sei denn, man hat das erforderliche Gen, um sich Ausgleich zu verschaffen oder auch die Einsamkeit zu schätzen. Ich brauche nicht dauernd die neueste krasse Experience in der Berliner Hipster- oder sonstwelcher Szene. Die Natur hier bietet mir krasse Experiences genug. Dieses "Nur weg hier" konnte ich noch nie verstehen. Jedenfalls nicht in dieser Radikalität.

     

    Und wenn alle gehen, wer soll dann den Laden schmeißen?

     

    In Zeiten des Internets, wie Sie ganz richtig ansprechen, hat sich außerdem der Abstand verringert. Gleichgesinnte zu finden ist nicht mehr ganz so schwierig. In Kiel oder Cuxhaven können Sie den gleichen Zugang haben wie in Berlin oder München. Es ist mittlerweile ganz erträglich, vorausgesetzt man weiß sowas wie die Kugelbake zu schätzen und versteht überhaupt, was man daran hat.

     

    Und kreativ kann man überall sein.

     

    Rio Reiser ist nicht umsonst nach Fresenhagen gegangen. Abgelegene Plätze produzieren oft Schönes. Die Färöer, zum Bleistift. Ich empfehle Eivør Palsdottir als gutes Beispiel, und zum Bekämpfen des gelegentlichen Heimwehs. Das Land kann auch Triebfeder sein. "Der Schimmelreiter" und so. Muß ich Günter Grass nennen? Oder die Buddenbrooks? Oder "Krabat"?

     

    Vielleicht Zeit für Ihren großen Nordseeroman? :-)

  • Schon Mist, wen sich die "professionelle Arroganz" breit macht in einem. Man hört und sieht dann Dinge, die es so gar nicht gibt.

     

    Nein, wenn jemand sagt, man sollte ja "vielleicht dahin zurückkehren, wo es am schönsten ist", nachdem man schon "überall" war, dann meint das nicht, man soll zurück gehen an den Ort seiner Geburt. Kann sehr gut sein, dass die Veranstalterin des Abends ganz besonders gut zugehört hat. Womöglich wollte sie nichts weiter sagen als: "Der Mensch hat dann erst eine echte Wahl, wenn er schon überall gewesen ist. Dann, nämlich, weiß er aus Erfahrung ganz genau, wo es sich richtig anfühlt, und zwar nicht nur drei, vier Tage."

     

    Nur kann ein Mann, aus dem der Norden nicht gut raus zu kriegen ist, weil Vati ihn wie einen Fluch auf ihn gelegt hat, das vielleicht nicht so gut hören. Er kann sich nur an solche Sprichworte erinnern, in denen es daheim am aller schönsten ist. Und dann glaubt er, dass er zurück nach Hause soll, da hin, wo sich die Leute dauernd streiten. Und plötzlich mag er sie nicht mehr, die Frau, die er noch gar nicht kennt.

     

    Meinte die Frau etwa Cuxhaven? Wir werden es wohl nie erfahren. Was wir jedoch erfahren, ist, dass da einer sein Glück sucht in der Welt. Und zwar erfolglos, wie es scheint. Er hat die Hoffnung offenbar schon aufgegeben, den Platz zu finden, der quasi für ihn bestimmt ist. Er will bis siebzig weiter suchen – um dann doch in Cuxhaven zu versauern. Das nennt er seine Profession.

     

    Sehr traurig, das. Was soll denn dann die ganze Reiserei? Zumal in Zeiten eines CO2-Problems?

    • @mowgli:

      Also mal ernsthaft, was ist schlecht an Cuxhaven?