Zum 9. November: Die Rückkehr des Gedemütigten

Zur Reichspogromnacht sperren die Nazis Werner Rindsberg ins Gefängnis. Er kommt in US-Uniform zurück – und entnazifiziert die Uni Marburg.

Die Brüder Rindsberg: Walter Reed, in der Mitte, ist der Einzige, der überlebt hat. Bild: privat

Walter Reed – klein, drahtig, volles Haar – ist ein Überlebender. Als die Nationalsozialisten seine Familie, die 70 Juden aus Mainstockheim und viele Millionen in ganz Europa ermordeten, konnte er flüchten. In der Uniform des US-Soldaten und mit neuem Namen kehrte er 1945 nach Deutschland zurück.

In Mainstockheim gibt es eine Straße, die „An der Synagoge“ heißt. Juden leben hier allerdings schon lange nicht mehr, so wie in fast allen Dörfern und kleinen Städten Unterfrankens, Bayerns und ganz Deutschlands. Eine Tafel am Zentrum der katholischen Gemeinde Sankt Gumbert kündet davon, das dies einmal anders war: „Dieses Gebäude, erbaut 1836, diente der jüdischen Kultusgemeinde als Synagoge. Die Gemeinde gedenkt ihrer ehemaligen jüdischen Mitbürger. Zur Erinnerung und Mahnung.“

An die Zeit, als es in dem unterfränkischen Dorf noch anders war, kann sich Walter Reed noch gut entsinnen. Der heute 89-Jährige, der einmal Werner Rindsberg hieß, stammt aus einer Mainstockheimer Weinhändlerfamilie; die Eltern waren angesehene Leute im Dorf, der Vater hat einst den lokalen Fußballklub mitbegründet.

Als Junge hat Walter Reed die Israelitische Elementarschule besucht, die in dem Synagogengebäude untergebracht war. „Unser Grundschullehrer hieß Friedmann“, sagt er. „Er war auch der Kantor der Gemeinde. Einen eigenen Rabbiner hatten wir nicht.“

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Seine Geschichte

Heute hält Reed Vorträge in den USA und Europa. „Meine Eltern haben mein Leben gerettet. Ich konnte nie etwas für sie tun“, sagt er. „Wenn ich meine Geschichte Menschen erzählen kann, die das nicht erlebt haben, dann kann ich doch etwas tun – nicht nur für meine Eltern und meine Brüder, sondern auch für all die anderen Opfer.“

Seine Geschichte erinnert daran, wie schnell damals alles ging, nachdem Hitler 1933 an der Macht war: „Bald kamen alle christlichen Kinder zum Jungvolk und in die Hitlerjugend“, sagt er. „Auf dem Weg zur Schule wurden wir von den anderen Kindern angegriffen. Man hat uns verleumdet, verprügelt und bespuckt.“ Nun musste er den Namen Werner Israel Rindsberg tragen, damit jedermann erkennen konnte, dass er Jude ist: „Man hat uns zu Untermenschen gemacht“, sagt er, „es hieß, wir seien nicht würdig, in Mainstockheim zu leben.“ Das Dorf zählt zum NSDAP-Gau von Julius Streicher, diesem fanatischen Antisemiten, der von Nürnberg aus das Hetzblatt Der Stürmer verbreitet.

Die Synagoge von Mainstockheim wird in der Pogromnacht des 9. November 1938 nur deshalb nicht angezündet, weil man befürchtete, dass die Flammen auf einen nahe gelegenen Bauernhof übergreifen könnten. Walter Reed: „Aber man hat alles hinausgeworfen.“ 15 Torarollen und die Silbergeräte werden von Dorfbewohnern und SA-Männern gestohlen.

Am nächsten Morgen wird Werner Rindsberg zu Hause verhaftet und ins Gefängnis im benachbarten Kitzingen gesteckt, so wie alle jüdischen Männer im Dorf. Weil er erst 14 Jahre alt ist, lassen die Nazis ihn nach drei Tagen wieder nach Hause gehen. Die anderen Männer werden ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. „Mein Vater war ungefähr fünf Wochen dort. Er ist zurückgekommen und sah 20 Jahre älter aus. Er hat niemals etwas erzählt“, sagt Reed. In ganz Deutschland werden in diesen Tagen etwa 30.000 jüdische Männer in die Lager gezwungen.

Er konnte rechtzeitig fliehen

Vergeblich versucht die Familie Rindsberg, ein amerikanisches Visum zu erhalten. Die Länder der zivilisierten Welt zeigen wenig Interesse, einige zehntausend deutsche Juden zu retten und ihnen eine Einwanderung zu ermöglichen. Im Oktober 1941 verbietet die deutsche Regierung den Juden, das Land zu verlassen. „Geheim! Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei hat angeordnet, dass die Auswanderung von Juden mit sofortiger Wirkung zu verhindern ist“, lautet der Erlass.

Nur Werner Rindsberg hat rechtzeitig fliehen können. Ruhig, scheinbar distanziert – als gehe es nicht um sein eigenes Leben – berichtet Reed: „Es gab eine andere Familie im Dorf, die hatten einen Cousin, der in Brüssel lebte. Der fand heraus, dass es dort ein Rettungskomitee für jüdische Kinder gab. So haben mich meine Eltern im Juni 1939 in den Zug nach Brüssel gesetzt.“ Aber warum haben sie nur ihm, nicht aber seinen beiden jüngeren Brüdern die Ausreise ermöglicht? Die Frage quält Reed jahrzehntelang. „Vielleicht war es schon schmerzhaft genug, den Ältesten hinauszuschicken.“

Werner Rindsbergs Reise nach Brüssel ist Teil einer großen Rettungsaktion. Tausende jüdische Kinder dürfen noch 1939 nach Großbritannien, Belgien, Frankreich und in die Niederlanden kommen. Ihre Eltern aber erhalten keine Einreiseerlaubnis.

In Brüssel besucht der Junge eine Berufsschule und lernt Mechaniker. Doch das nationalsozialistische Regime holt die Flüchtlinge ein. Am 10. Mai 1940, beginnt der Angriff der Wehrmacht auf Belgien, die Niederlande und Frankreich. Im letzten Moment gelingt es, die über 100 Kinder und Jugendlichen in einem Güterwagen aus Brüssel in die unbesetzte Zone im Süden Frankreichs zu evakuieren.

Er wollte nicht mehr Deutscher sein

Im Frühjahr 1941 erhalten 17 von ihnen ein Visum für die Vereinigten Staaten von Amerika. Werner Rindsberg ist einer der Glücklichen, doch er weiß bis heute nicht warum. „Ich hatte Verwandte dort, die für mich bürgten, aber viele Kinder hatten dort Verwandte.“ Walter Reed holt eine Kopie seines US-Visums hervor, ausgestellt auf den 3. Juni 1941.

Im September jenes Jahres erreicht er New York. Werner Rindsberg will Amerikaner sein, nichts soll mehr daran erinnern, dass er als jüdischer Emigrant das Land betrat. Als der 19-Jährige 1943 zur Armee eingezogen wird, erhält er auch die US-Staatsbürgerschaft und kann sich einen neuen Namen geben: Walter W. Reed – nur das W. steht für seinen alten Vornamen. „Ich wollte nicht mehr Deutscher sein und nicht mehr jüdisch. Walter Reed klingt sehr amerikanisch“, sagt er heute.

Doch der Mann, der einmal Werner Rindsberg hieß, kehrt nach Europa zurück. Eine Woche nach dem D-Day am 6. Juni 1944 erreicht seine Einheit die Küste der Normandie in Frankreich. Er repariert Bulldozer für die Armee. Im befreiten Paris hört er von der Möglichkeit, zum Vernehmer von deutschen Gefangenen zu werden, und meldet sich freiwillig. Er ist nicht länger der eingeschüchterte jüdische Junge aus dem Dorf, den die Hitlerjugend-Kinder verprügeln. Er ist Amerikaner und Soldat der US-Armee bei der 95. Infanteriedivision unter General Patton, der die geschlagenen Deutschen vernimmt.

„Es gab dreierlei Gefangene: Die, die große Angst hatten, haben uns alles gesagt, was sie wussten“, berichtet er. „Die strengen Nazis haben gelogen. Viele andere wollten nicht sprechen, und dem Kriegsrecht entsprechend mussten sie das auch nicht tun.“ Nach der deutschen Kapitulation gerät Reed zum CIC, dem Counter Intelligence Corps. Der Geheimdienst der US-Militärregierung hat die Aufgabe, die Deutschen zu entnazifizieren.

Er entscheidet, wer weiter lehren darf

So kommt es, dass der deutsch-jüdische Emigrant Walter Reed im Spätsommer 1945 Herr über die Zukunft deutscher Professoren in Marburg wird. „Ich als 21-Jähriger, der nie eine Universität besucht hatte, konnte bestimmen, welche Mitglieder der Fakultät künftig noch weiter lehren durften“, sagt er. „Ich will nicht behaupten, dass wir einen guten Job gemacht haben. Wir taten, was wir konnten.“ Er habe sich nicht als „jüdischer Flüchtling“ gefühlt, sondern als „Amerikaner“: „Jetzt ging es um diese hässlichen Deutschen, die ganz Europa zertrümmert hatten.“

Reed und seine Einheit erhalten Informationen von Deutschen aus dem Widerstand. Zudem besitzt der CIC Listen von NSDAP-Mitgliedern. „Wir fragten sie alles mögliche, bis wir zum entscheidenden Punkt kamen: ,Sie waren in der Partei. Wann mussten Sie eintreten?‘ ,1934.‘ Die wussten nicht, dass uns bekannt war, dass es 1934 eine freiwillige Entscheidung war.“

Walter Reed hat keine Ahnung, was aus seinen Eltern und seinen Brüdern geworden ist. Er schnappt sich einen Jeep und fährt in das in US-Zone liegende Mainstockheim. „Als ich weggegangen war, war ich ein Untermensch, ein junger Jude, der verhaftet worden war“, sagt er. „Jetzt trug ich eine amerikanische Uniform und einen Stahlhelm und ich besaß ein Gewehr und einen Jeep.“ Die Dorfbewohner erzählen Reed, dass alle Juden ungefähr drei Jahre zuvor in ein Lager nach Polen geschickt worden seien. Der 89-Jährige holt ein abgewetztes Notizbuch hervor: „Izbica, Block 2435, Distrikt Lublin“, steht da. Am 24. März 1942 wurden 27 Juden aus Mainstockheim, darunter seine Familie, in die polnische Kleinstadt deportiert. Insgesamt mussten mit dem Zug „Da 36“ von Kitzingen aus 208 Menschen aus den Landkreisen Kitzingen und Ochsenfurt fahren, ab Nürnberg waren 1.000 Menschen an Bord.

Zum selben Zeitpunkt begannen in Izbica die Deportationen der ansässigen polnischen Juden in das Vernichtungslager Belzec, wo sie kurz nach ihrer Ankunft mit Giftgas ermordet wurden. Insgesamt 15.000 Juden aus Deutschland und Österreich wurden in den Distrikt verschleppt, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten, bevor man sie in Belzec oder Sobibor ermordete. Unter ihnen war auch die vierköpfige Familie Rindsberg.

Seine Wahrheit

Über 50 Jahre lang hat Reed, der nach dem Krieg als Werbefachmann arbeitet, seine Herkunft verschleiert. „Ich habe gesagt: Ich sei in Brooklyn geboren, meine Eltern starben bei einem Autounfall. Ich hätte auch keine Geschwister.“ Niemals mehr will er einer Minderheit angehören und Diskriminierungen erleiden. „Es gab auch in Amerika häufig Antisemitismus.“

Zunächst kennt nur seine Familie die Wahrheit. Erst 1997 kehrt er nach Belgien und Frankreich an die Stationen seiner Flucht zurück und bricht sein Schweigen. Es kostet ihn viel Überwindung. Zehn Jahre später schließt sich Walter Reed zusammen mit seiner Frau und seinen drei Söhnen einer Reise von Mainstockheim nach Izbica an. Die deutschen Bürger vom Main haben ihn eingeladen. Die Gruppe fährt in die ehemaligen Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Majdanek. In Izbica wird eine Gedenktafel für die Opfer aus Unterfranken enthüllt.

Der Autor dankt dem AlliiertenMuseum Berlin für die freundliche Unterstützung

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