Zugvögel in Europa: Milliarden wählen die Langstrecke
Im Herbst fliehen viele Vögel vor der Kälte. Die meisten ziehen bis nach Afrika. Orientierung geben ihnen dabei Sterne und Magnetfelder.
BERLIN taz | Der Seggenrohrsänger weiß, wohin er will. Wenn der spatzengroße schlanke Vogel sein Brutquartier in Weißrussland verlässt, fliegt er zunächst schnurstracks nach Westen und gelangt dann über Spanien, Marokko und Westafrika nach Senegal. Dort landet er im selben Busch wie im Winter zuvor und verbringt in seinem bekannten Gebüsch die nächsten Monate bis zum Rückflug nach Norden. Um punktgenau dort zu landen, wo er auch im Sommer zuvor für Nachwuchs gesorgt hat.
Vogelfreunde treffen sich an diesem Wochenende an Seen, Flüssen, Bergkuppen und an der Küste, um das Spektakel der Zugvögel zu betrachten. Der Seggenrohrsänger ist zwar schon durch, aber Kraniche und die ganzen nordischen Gänse kreisen noch über Nord- und Ostdeutschland, bevor sie bald in den beeindruckenden V-Formationen gen Südwesten aufbrechen.
In diesen Tagen sammeln sie sich auf der Durchreise an Futterstellen, weshalb der Naturschutzbund Nabu am 5. und 6. Oktober in ganz Deutschland zu Exkursionen einlädt. Bei solchen Veranstaltungen wurden im vergangenen Jahr 234 Arten beobachtet. „Das war Rekord“, sagt Lars Lachmann, Vogelexperte des Nabu.
Dabei ziehen die meisten Vögel ziemlich unauffällig allein in der Nacht. Aufmerksame Nachtspaziergänger können ab August die ziehenden Singvögel zwitschern hören, denn obwohl die Tiere allein fliegen, rufen sie vor sich hin. Nachtigallen, Singdrosseln, Kuckucke oder Baumpieper orientieren sich an den Sternen – und an den Magnetfeldern der Erde. Deren Neigung ermöglicht es einigen Arten sogar, die geografische Breite zu ermitteln und ihre Route anzupassen.
Ornithologen wie Lachmann unterscheiden zwischen Langstrecken- und Kurzstreckenziehern. Letztere ziehen beim ersten Kälteeinbruch beispielsweise nur von Brandenburg in die Provence. Oder wie eine englische Amsel von Norfolk ins nur 450 Kilometer entfernte Cornwall. Jedes Mal im selben Garten, wie Ornithologen beobachtet haben.
Afrikaner oder Europäer
Mehr als zwei Milliarden Vögel wählen jedoch jeden Herbst die lange Strecke von Europa nach Afrika. Lange haben sich Vogelkundler darüber gestritten, ob die ziehenden Singvögel, die Bussarde, Adler, Kraniche und Störche nun hierher nach Europa gehören oder in Afrika zu Hause sind. Je nach politischer Lage waren Storch, Nachtigall und der Adler demnach deutsch – oder als Afrikaner hierzulande Gäste in der multikulturellen Vogelschar.
Der ideologische Streit scheint entschieden, sagt Lachmann. „Die ziehenden Arten sind wissenschaftlich betrachtet eher Arten, die sich im Norden entwickelt haben“, sagt er. Von China und Sibirien bis nach Europa lassen sich so Vögel einer Art zuordnen, was sie nicht daran hindert, den Winter im futterreichen Afrika zu verbringen.
Der Flug ist gefährlich, gelten Singvögel doch in Italien, auf Zypern, Malta und in den nordafrikanischen Ländern als Delikatesse. Deutsche Jäger hingegen halten sich nicht mit Kleinvögeln auf und schießen Wildgänse und Waldschnepfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands