Zu elft ein Bankkonto teilen: „Gemeinschaft üben“
Die Initiative Common Wallet teilt sich mit elf Personen ein Bankkonto. Zwei von ihnen erzählen über persönliches Glück und Solidarität.
taz: Christophe Meierhans, Tiziana Penna, ein Bankkonto gehört zum Privatesten, was es gibt. Wie kommt es, dass Ihr zu elft eines teilt?
Christophe Meierhans: Am Anfang bestand unsere Gruppe ausschließlich aus Leuten, die im Kunstbereich arbeiteten, und die Frage war, wie wir unsere Zusammenarbeit solidarischer gestalten könnten. So kam die Idee eines gemeinsamen Bankkontos. Nicht alle fanden das gut, aber letztlich wollten es 10 von uns ausprobieren. Wir begannen mit einer dreimonatigen Testphase und einer Regel: ein Treffen einmal die Woche, um sich auszutauschen. Inzwischen nutzen wir das Konto seit fast 4 Jahren, und aus dem Experiment wurde ein Lebensstil.
Drei Eurer Mitglieder behaupteten bei einem öffentlichen Gespräch, dieser Lebensstil mache glücklicher?
Tiziana Penna: Es ist vielleicht nicht dieselbe Art Glück, die andere dafür halten. Unsere Beziehung zum Geld neu zu denken, ist eine sehr tiefe, wesentliche Erfahrung. Common Wallet schafft Vertrauen und Empathie und dadurch mehr existentielle Sicherheit. Dieser emotionale Teil ist wichtig.
Tiziana Penna
hat Fotografie studiert und arbeitet von Brüssel aus als Produzentin. Sie ist 2019 bei Common Wallet eingestiegen. Aufgrund eines Stromausfalls war sie nur im ersten Teil des Onlinegesprächs dabei.
Christophe Meierhans
ist in Genf geboren, studierte Musik in Berlin und Amsterdam und arbeitet von Brüssel aus als Performer und Aktivist. Er ist Gründungsmitglied von Common Wallet.
Meierhans: Selbstverständlich hat Common Wallet auf jede:n einzelne:n von uns einen unterschiedlichen Effekt, je nach der eigenen Situation, die auch viel mit der Familienherkunft zu tun hat. Ein Mitglied hat die Gruppe bereits verlassen, Glück ist also nicht für alle gleich. Was mich glücklich macht, ist der Gedanke, dass der Lebensstil, den wir ausprobieren, genau das ist, was wir für eine immer unsicherer werdende Zukunft brauchen. Wir sind als Individuen nicht unabhängig, sondern leben in starken Abhängigkeiten. Ein wichtiges Mittel, um unseren Lebensstandard zu verbessern, ist es daher, Gemeinschaft und Solidarität zu üben.
Warum ist ein Mitglied ausgestiegen?
Meierhans: Das war hauptsächlich persönlich. Eine Rolle spielte aber auch, dass die Person, die einen „Status“ als Geflüchtete hatte, ihrer Situation entsprechend durchgängig die geringsten Beiträge einzahlte. Das führte bei ihr zu permanenten Schuldgefühlen. Wir haben versucht, darüber zu sprechen, wie man diese Gefühle loswerden kann, und die Gelegenheit, die die Gruppe bietet, gerade in so einer Situation nutzen. Aber es hat leider nicht geholfen.
All Eure Verdienste, auch Stipendien und Kindergeld, werden auf das gemeinsame Konto eingezahlt. Regeln, wer was davon verwendet, gibt es nicht. Welche Art von Transparenz setzt das voraus?
Penna: Transparenz ist eine Errungenschaft: Was möchte man mit der Gruppe teilen, was nicht, was fühlt sich gut an zu sagen, was nicht? Ehrlich mit meiner eigenen Situation umzugehen, ist für mich der Boden für das Funktionieren der Gruppe.
Meierhans: Eine wichtige Komponente ist, dass wir uns kein Urteil darüber erlauben, wofür die Mitglieder das Geld ausgeben. Die einzige Person, die darüber urteilen kann, ob eine Ausgabe nötig war, ist die Person selbst. Darauf vertrauen wir.
Seid Ihr einfach so oder musstet Ihr es lernen, so zu empfinden?
Meierhans: Ich glaube, wir sind so. Mich überrascht das auch.
Was ist, wenn jemand zum Beispiel zwei Monate lang nichts einzahlt, aber sich ein neues Handy kaufen will?
Meierhans: Solche Situationen kommen selten vor. Es gibt zwei Arten von Bedürfnissen: akute und welche, mit denen auf den richtigen Moment gewartet werden kann. Wenn größere Ausgaben anstehen, besprechen wir den besten Zeitpunkt dafür. Wenn zum Beispiel eine Heizung eingebaut werden muss, gleichzeitig aber Honorarzahlungen ausbleiben, wird es knapp. Dann müssen wir auf Erspartes zurückgreifen. Die Gelder werden dann, wenn gewünscht, vom gemeinsamen Konto zurückgezahlt.
Common Wallet ist eine Initiative von elf in Brüssel lebenden Erwachsenen zwischen 37 und 49 Jahren, mit neun Kindern, die seit Januar 2018 von einem gemeinsamen Bankkonto leben. Die meisten sind Künstler:innen, aber nicht alle. Das gesamte Einkommen der Gruppe fließt auf ein Konto, und jede:r verwendet das Geld nach seinen Bedürfnissen und Sehnsüchten, unabhängig davon, ob es dem von ihm eingebrachten Einkommen entspricht. Anlässlich des Werkstattprogramms „Spot on Economies“, das im Essener Künstlerzentrum PACT Zollverein Wirtschaftsmodelle als Weichenstellungen für soziale, ökologische und politische Zukünfte beleuchtet, haben drei Mitglieder das Modell Common Wallet vorgestellt. Die Veranstaltung kann hier nachgehört werden.
Die Soziologin Eva Illouz sagte einmal, in Zukunft käme es darauf an, welche sozialen Netzwerke geschaffen werden können, um die Isolation, die von den gegenwärtigen Ansprüchen an eine Kleinfamilie ausgeht, zu durchbrechen. Seht Ihr euch als eine Art erweiterte Familie?
Meierhans: Durchaus. Unsere Art Wahlverwandtschaft hat viel mit Liebe und Vertrauen zu tun. Die waren nicht unbedingt von Anfang an da, weil einige sich noch gar nicht kannten. Das Interessante aber ist, dass diese Qualitäten anfangen zu wachsen, wenn man füreinander sorgt.
In der Freundschaftsphilosophie, ausgehend von Aristoteles und Platon, heißt es, dass viele zu lieben kaum möglich sei. Wie viele Mitglieder kann eine Gruppe wie Eure haben?
Meierhans: Wesentlich ist, dass alle zu allen eine persönliche Beziehung haben können. Dass wir uns über das, was wir durchmachen, auf dem Laufenden halten. Es gab einen Sommer, in dem wir uns für zwei Monate nicht sahen. Das war eine Zeit, in der Spannungen entstanden, ich denke, weil wir uns nicht mehr fühlten.
Penna: Auch während der pandemisch bedingten Kontaktsperren hat sich Ähnliches gezeigt. Wir brauchen die Qualität des Zusammenseins. Die erweiterte Familienstruktur ist für mich definitiv wichtig.
Meierhans: Wir sind eine kleine Gruppe, aber gleichzeitig Teil eines größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs. Wie nutzen wir, auch wenn wir alle meist in recht prekären finanziellen Situationen leben, unser Privileg, mit guten Ausbildungen in sozial relativ gut abgefederten Gesellschaften zu leben? Wie kann unser Leben gesellschaftlich inspirierend werden? Das sind für uns wesentliche Fragen.
Wie oft trefft Ihr euch und was sind aktuell die Diskussionspunkte?
Meierhans: Es gibt ein wöchentliches Frühstück. Normalerweise besprechen wir praktische Dinge wie den Cashflow und tauschen uns über unsere Leben aus. Für wesentliche Fragen planen wir ganztägige Arbeitstreffen.
Wie geht Ihr mit der No-go-Frage, der nach dem Erbe, um?
Meierhans: Dieser Punkt war Thema eines von einem Experten begleiteten Arbeitstreffens, aber es gibt noch keine Lösung dafür. Das Thema bezieht sich auf einen viel größeren Zeitraum als unsere aktuelle Arbeitsrealität. Aber je länger wir zusammen sind, desto wichtiger wird es. Was wir bisher geschafft haben, ist, unsere finanziellen Hintergründe offen zu legen. Natürlich spielen sie eine Rolle, und sobald jemand vom Girokonto Gelder für das Abbezahlen eines Hauses verwendet, das er oder sie zur Hälfte aus einem Erbe erworben hat, wird es komplex. An die Frage dieser Asymmetrien kommen wir aber wahrscheinlich ohne gesellschaftliche Bewegungen in dieser Beziehung nicht ran. Eher versuchen wir durch Offenlegung eine gewisse Solidarität zu ermöglichen. So gleichen Mitglieder mit finanziellem Backup manchmal Kontorückstände aus.
Gibt es gesellschaftliche oder ökonomische Modelle, die euch in dieser Beziehung inspirieren?
Meierhans: Viele von uns sind auch Teil anderer Kooperativen in Bezug auf Housesharing, Agrikultur, Räume des Zusammenseins oder auch Modelle des gesellschaftlichen Ressourcensharings. Die Pandemie hat die Bewegungen verstärkt. In Bezug auf die Finanzströme gibt es für mich noch wenig, was effektiv umgesetzt wird.
Auf der griechischen Insel Ikaria gibt es eine der höchsten europäischen Lebensalterserwartungen. Eine Erklärung, die mir die Menschen vor Ort dafür gaben, ist, dass es durch gesellschaftliches Teilen weniger existentielle Ängste gäbe.
Meierhans: Ja, ich denke, der Konkurrenzdruck in der Gesellschaft der letzten 30 oder so Jahre hat uns sehr viel Angst sowohl voreinander als auch in Bezug auf uns selbst eingebracht. Finanzielles Teilen nimmt diese Angst ein wenig. Zu elft kein Geld mehr zu haben, ist etwas anderes, als allein keines mehr zu haben. Wir erfahren uns selbst mehr durch unsere Präsenz in der Gruppe als durch die Höhe des Einkommens, das wir generieren. Dieses Entkoppeln von Selbstwert und Einkommen ist vielleicht unsere größte Errungenschaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden