piwik no script img

Zivilgesellschaft in PolenDemonstrationen in über 30 Städten

Ex-Präsident Walesa wirft Polens Regierung Ruinierung des Landes vor. Tausende folgen Aufrufen zu Protesten gegen die rechtskonservative PiS.

Der Demonstrationszug vom Samstag in Warschau. Foto: dpa

Warschau afp | In mehr als 30 polnischen Städten haben am Samstag erneut tausende Bürger gegen die rechtskonservative Regierung demonstriert. In Warschau versammelten sie sich vor dem Regierungssitz von Ministerpräsidentin Beata Szydlo und zogen zum Präsidentenpalast. Der ehemalige Staatschef Lech Walesa warf der Regierung wegen ihrer Gesetzesänderungen im Justiz- und Medienbereich vor, „das Land zu ruinieren“.

Über den Köpfen der Demonstranten in der Hauptstadt wehten Flaggen Polens und der Europäischen Union. Auf Plakaten hieß es: „Nein zur Putinisierung, nein zur Überwachung, nein zum Kommunismus!“ oder „Ich liebe die EU, einschließlich Deutschlands“ – eine Anspielung auf die Angriffe gegen Deutschland aus dem polnischen Regierungslager.

In anderen polnischen Städten gab es ähnliche Demonstrationen. Das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (KOD) setzte damit seine Proteste gegen die Regierung der Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) des ehemaligen Ministerpräsidenten Jaroslaw Kaczynski fort. Dieser ist offiziell lediglich Parteichef. Allerdings erkennen sowohl Staatschef Andrzej Duda als auch Szydlo an, dass der Parteivorsitzende die Richtlinien der Politik vorgibt.

„Wir sind keine Revolutionäre. Wir wollen unsere Demokratie und unsere Freiheit verteidigen“, sagte der KOD-Gründer Mateusz Kijowski. Die spontan gegründete zivilgesellschaftliche Gruppe wird von den meisten Oppositionsparteien unterstützt. Sie wirft der seit November regierenden Kaczynski-Partei vor, die Schaltstellen der Macht in Polen mit ihr genehmen Vertretern zu besetzen, um ungestört ihre Regierungsvorhaben durchsetzen zu können.

Walesa spricht von Lügen

Besonders der Versuch der Regierungsmehrheit, das Verfassungsgericht durch die Ernennung von fünf neuen Richtern unter Kontrolle zu bringen, sorgt für Empörung. Auf Kritik, auch der EU, stößt zudem, dass die Chefs des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders TVP und des Radiosenders PR künftig direkt von der Regierung und nicht durch ein unabhängiges Gremium ernannt oder abberufen werden können. Die EU-Kommission leitete deswegen erstmals in ihrer Geschichte eine Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit ein.

Walesa, der ehemalige Chef der antikommunistischen Solidarnosc-Bewegung in Polen, sagte dem Fernsehsender TVN24: „Wir haben hart gearbeitet, um die Freiheit zu erreichen. Gerade sind wir dabei, das zu vergeuden.“ An die Adresse der derzeitigen Regierung sagte er: „Alle Welt weiß, dass sie die Verfassung verletzt haben, und sie sagen uns frech ins Gesicht, dass das nicht stimme.“

Szydlo hatte sich am Dienstag vor dem Europaparlament in Straßburg gegen scharfe Kritik aus Brüssel verteidigt. Sie bezeichnete alle Maßnahmen als im Einklang mit der Verfassung und den EU-Verträgen stehend. „Ich habe noch nie eine so dicke Lüge gehört“, sagte Walesa dazu.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

14 Kommentare

 / 
  • Ich finde das Zitieren von Lech Walesa in diesem Kontext etwas problematisch. Seine Präsidentschaft (1990-1995) war vor allem durch massive Manipulationen der Gesetze und der Verfassung gekennzeichnet. Genannt nach Walesas Berater Falandysz hat dies sogar die Entstehung eines neuen Konzepts der "Falandisierung" des Rechts bewirkt. Da scheint mir Walesa als Verteidiger der polnischen Verfassung wenig glaubwürdig zu sein. Ganz zu schweigen von seinen bekannten Sympathien für die PO, deren Politiker sein Sohn Jaroslaw ist. Ich würde dem Autor/Autorin wirklich nahelegen, die Hintergründe stärker zu beleuchten.

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @John Vasquez:

      Die Fehler der Vorgängerregierungen rechtfertigen noch lange nicht die Brechstangenmethoden der PiS.

  • Und wer ist bitte schön Autor/Autorin des Artikels oder wird jetzt bei der TAZ anonym publiziert?

  • "Die Angriffe gegen Deutschland aus dem polnischen Regierungslager". Sehr interessant! Deutschland darf man nicht kritisieren, denn es sind gleich Angriffe. Wenn deutsche Politiker Polen kritisieren, ist es natürlich konstruktiv und wohl gemeint.

  • 1G
    19412 (Profil gelöscht)

    "Tausende folgen Aufrufen..."

    JA... aber eben landesweit nur ein paar tausend! Und da waren auch noch haufenweise PO-Leute dabei! Und man muss alle die jenigen abziehen, die beim Einkaufsbummel einfach nur stehen geblieben sind.

    Was verstehen Sie denn unter einer "zivilgesellschaftlichen Gruppe" - Verein, Partei? KOD ist auch keine Bürgerbewegung sondern ein von Oppositionellen gesteuerter wilder Haufen. Und ... KOD laufen die "Anhänger" davon, weil viele begriffen haben, daß der "Vorturner" Mateusz Kijowski nicht aus eigenem Interesse handelt und möglicherweise auch noch bezahlt wird.

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @19412 (Profil gelöscht):

      Nette Verschöwrungstheorie aber durch nichts zu belegen!

    • @19412 (Profil gelöscht):

      Mich würde auch interessieren, in wie weit die Proteste von der Bevölkerung getragen werden. Schließlich wollen wir ja keine "bunte" Revolution in der EU.

    • 4G
      4845 (Profil gelöscht)
      @19412 (Profil gelöscht):

      Die KOD ist eine immer stärker werdende außerparlamentarische Opposition!

      • @4845 (Profil gelöscht):

        Was versteht man unter "immer stärker werden"? Eine Organisation mit z.B. 1000 Mitgliedern, die sich auf 2000 verdoppelt, ist zwar um 100% stärker geworden, aber sie ist in einem Land mit fast 40.000.000 Einwohnern trotzdem unbedeutend.

         

        Also wie stark?

        • 4G
          4845 (Profil gelöscht)
          @warum_denkt_keiner_nach?:

          Da die KOD eine außerparlamentarische Opposition ohne feste Organisationssturktur ist, sind konkrete Zahlen schwierig. Auf Facebook hat die Gruppe über 140.000 Mitglieder, auf den Demonstrationen am vergangenen Samstag waren über 50.000 Demonstranten. Der Zuspruch ist seit der Gründung stetig gewachsen.

          • @4845 (Profil gelöscht):

            Danke. Endlich mal etwas konkretes. Allerdings müssen es deutlich mehr werden, wenn sie etwas bewegen wollen.

  • Der Schein bestimmt das Bewußtsein

     

    "Es darf auf keinen Fall der Eindruck aufkommen, dass wir Polen nur bestrafen wollen, weil uns aus politischen Gründen nicht gefällt, was da passiert", so der CDU-Europapolitiker Elmar Brok („Die Zeit“, 5. 1. 2016)

     

    Dieser Satz offenbart das ganze „systemische“ Dilemma des EU-Konstrukts: Eine Verletzung „europäischer Werte“ ist natürlich ein Politikum, was denn sonst. Wenn etwa die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtes durch die neue Legislative gemäß ihrem politischen Programm nach ihrem Wahlsieg eingeschränkt wird, so ist das eine höchst politische, nämlich rechtspolitische Angelegenheit. Folglich erfolgt die Kritik der Brüsseler Exekutive daran notwendig „aus politischen Gründen“. Das dürfte auch Elmar Brok klar sein. Daher kann man diesen Satz auch andersrum verstehen: „Wir kritisieren Warschau natürlich aus politischen Gründen. Nur darf es nicht danach aussehen.“


     

    Aus diesem Dilemma böte sich ein Ausweg an: Nach dem Stabilitätspakt der Eurostaaten müssen die jeweiligen Haushaltspläne vor der parlamentarischen Behandlung zu Freigabe in Brüssel vorgelegt werden. Analog dazu könnte die Brüsseler Exekutive per Direktive dekretieren, daß alle politischen Parteien ihre Wahl- und Parteiprogramme in Brüssel zur Genehmigung vorlegen müssen, bevor ihnen die EU-Kommission die Wahlzulassung erteilt. Zuvor müßte natürlich ein programmatischer Korridor von der Brüsseler Bürokratie definiert werden, innerhalb dessen sich die beteiligten Akteuere bewegen, d. h. Demokratie spielen dürfen...

  • Es wäre nett, wenn die Zahl der Demonstranten genannt würde. Dann könnte man sich ein Bild machen, wie stark der Widerstand ist.