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Zeremonie am Holocaust-Gedenktag„Wir müssen die Erinnerung hochhalten“

Vor 80 Jahren befreite die Rote Armee das größte Vernichtungslager NS-Deutschlands. Kanzler Scholz beklagt zunehmende Geschichtsvergessenheit.

Zentrum der NS-Mordpolitik ab 1943: In Auschwitz ermordeten die Deutschen über eine Million Menschen, vor allem Ju­den*­Jü­din­nen Foto: Oded Balilty/dpa

Berlin dpa/rtr | Mit einer zentralen Gedenkzeremonie am Ort des früheren deutschen Vernichtungslagers Auschwitz wird am Montag in Polen der Befreiung vor 80 Jahren gedacht (16.00 Uhr). Deutschland wird bei der Veranstaltung in der Gedenkstätte unter anderem von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) vertreten. Erwartet werden zudem dutzende weitere Staats- und Regierungschefs aus aller Welt sowie 40 bis 50 Auschwitz-Überlebende.

Polens Präsident Andrzej Duda eröffnet das Gedenken mit einem Grußwort, darüber hinaus sind keine politischen Reden geplant. Im Mittelpunkt der Zeremonie sollen die Überlebenden stehen. Bundespräsident Steinmeier will nach einem Rundgang über das einstige Lagergelände ein kurzes Statement vor der Presse geben (gegen 14.00 Uhr).

Bundeskanzler Scholz ruft in einem Interview mit mehreren Zeitungen dazu auf, sich stärker um die Erinnerung der jüngeren Generation an den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden zu bemühen. „Es muss uns bedrücken, wie viele junge Menschen in Deutschland kaum noch etwas über den Holocaust wissen“, sagte Scholz. Der Kanzler sieht einen „Auftrag an uns alle, daran etwas zu ändern“.

Scholz nannte es „wichtig, dass wir möglichst vielen jungen Menschen ermöglichen, mit den noch lebenden Zeitzeugen zu sprechen. Und wir müssen die Erinnerung hochhalten, wenn die letzten Zeugen einmal nicht mehr leben.“ Das Interview führten die Neue Berliner Redaktionsgesellschaft, die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten.

Im Konzentrationslager Auschwitz wurden zwischen 1940 und 1945 rund 1,1 Millionen Menschen ermordet. Das Lager wurde zum Symbol der nationalsozialistischen Judenverfolgung. Am 27. Januar 1945 wurden die letzten Gefangenen, die nicht auf die Todesmärsche getrieben wurden, von der sowjetischen Roten Armee befreit. Der 27. Januar ist seit 2005 internationaler Holocaust-Gedenktag. Insgesamt ermordete Nazi-Deutschland etwa sechs Millionen Juden*Jüdinnen.

Dazu ermordeten die Deutschen weitere Millionen sowjetischer Kriegsgefangener sowie nichtjüdische Zi­vi­lis­t*in­nen oder ließ sie bewusst zugrunde gehen. Vorangegangen war der Mordpolitik in Osteuropa die sogenannte Aktion T4, bei der Nazi-Deutschland gezielt Menschen mit Behinderung und psychischen Krankheiten ermordete.

Die Verfolgung von Menschen mit Behinderung wird nach Ansicht des Sozialverbandes VdK beim Gedenken noch immer nicht hinreichend berücksichtigt. „Die systematische Ermordung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderung war eine der dunkelsten Stunden in der Geschichte, geprägt von unermesslicher Behindertenfeindlichkeit“, sagte VdK-Präsidentin Verena Bentele der Düsseldorfer Rheinischen Post (Montag).

Es sei wichtig, die Vielfalt der Opfergruppen des Nationalsozialismus im Gedenken abzubilden. Das verdeutliche die allgemeine Menschenfeindlichkeit des Systems und halte alle wachsam „für neu aufkeimende Menschenfeindlichkeit in der Gesellschaft“.

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7 Kommentare

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  • Das ist keine Geschichtsvergessenheit sondern die Menschen wollen nicht immer auf dem zweiten Weltkrieg reduziert werden wovon hier die meisten damals nicht gelebt haben und somit kein Einfluss drauf hatten.

  • "Und wir müssen die Erinnerung hochhalten, wenn die letzten Zeugen einmal nicht mehr leben.“ Olaf Scholz

    Vielleicht werden wir bald selbst wieder Zeugen. Oder Opfer.



    Ratlos macht mich, dass laut einer Umfrage in Deutschland (!) jeder zehnte junge Erwachsene (bis 28 Jahre) angibt, nichts vom Holocaust gewusst zu haben.



    Schlimmer noch sind jene, die sehr wohl wissen, - es aber leugnen. Oder sich sogar freudig erneut auf einen Weg machen, der zum bösen Ende führt.

  • Die Nazis (die Innenpolitik, wohlgemerkt, schon für den zweiten Weltkrieg langt es nicht mehr) ist das Einzige, das im deutschen Geschichtsunterricht zuverlässig drankommt. Das passt mit den Umfrageergebnissen nicht zusammen. Anscheinend hat man eine Menge Leute befragt, die gar keinen deutschen Geschichtsunterricht genossen haben.

  • Gegen das Vergessen:



    "Die Tradition der Studienreisen nach Auschwitz reicht bis in die 1960er Jahre zurück. Organisiert von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste aus Berlin kamen Gruppen von Deutschen nach Oświęcim und entdeckten hier Spuren deutscher Geschichte. Für viele war die Reise nach Auschwitz die erste Konfrontation mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Heute nehmen Gruppen von Jugendlichen und Student*innen aus vielen europäischen Ländern an Studienreisen teil."



    mdsm.pl/de/edukacja/studienfahrten

  • Will man die Erinnerung and die Verbrechen 1933-145 hochhalten, muß sich die Erinnerungskultur wandeln.

    Für die Jugendlichen heute handelt es sich bei der Tätergeneration um die Urgroßeltern oder die Ururgroßeltern, bei den Opfern in seltenen Fällen um Großeltern, schon eher Urgroßeltern oder Ururgroßeltern.

    Das ist weit weg und sollte eine Komponente aus der Erinnerung entfernen: die emotionale Betroffenheit, auf beiden Seiten, Nachfahren der Täter wie der Opfer.

    Alles andere ist psychisch nicht gesund, man kann nicht über vier Generationen das Gewicht der Geschichte tragen. Die Amnesie bezogen auf die Traumata der Geschichte hat auch ihr Gutes.

    Nimmt man die persönliche Betroffenheit heraus, relativiert sich die Erinnerung natürlich. Dem Horror der Sondereinsatzkommandos stehen ungezählte, grauenvolle Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei 1945 auf dem gesamten Planeten gegenüber.

    Aktuelle und künftige Verbrechen beim Namen zu nennen und nicht mit Hinweis auf Naziverbrechen zu relativieren ist der beste Dienst, den wir an der Erinnerung an die deutschen Verbrechen tun können.

    • @Deutschfranzose:

      Das klingt wie ein Kommentar, der gefährlich ist. Mehrfach.

      Er enthält auch Deutungen die ich als nicht links und nicht realitätsnah begreife. Zu nah ist er an einem „genug“ und Instrumentalisierungsvorwürfen gegenüber Shoah/Holocaust.

  • Ich denke, die meisten verstehen etwas anderes unter den "Lehren des Holocaust". Es ist zu leerer Hülle verkommen. Alle setzen pflichschuldig betroffene Mienen auf, das ist alles. Nachgedacht über das, was uns diese Schrecken, die unsere Vorfahren verbrochen haben, hat in Wirklichkeit so gut wie niemand.

    Denn die Lehre aus dem Holocaust sollte sein, dass wir die Menschenrechte achten und schützen. Und zwar auch und gerade die der anderen. Aber stattdessen treten wir sie mit Füßen. Wenn ich einen Abschiebekanzler und einen Menschrechtszerstörer in spe wie F. Merz sehe, die mti getragener Miene an solchen Gedenktagen herumstehen, dann wird mir schlecht.

    Statt gegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorzugehen, wie sie in Israel jeden Tag begangen werden - sogar jetzt in der "Waffenruhe" noch -, unterstützen wir das noch mit Waffenlieferungen. Waffen, die unschuldige Kinder töten. Ist das die Lehre aus den Verbrechen des dritten Reichs?

    Stattdessen wenden wir uns in rassistischer menschenverachtender Weise inzwischen auch hier wieder gegen Schutzsuchende und haben kein eiligeres Ziel als sie loszuwerden. Nur, um zu verschleiern, was unsere echten Probleme sind. NICHTS gelernt!