Zehn Jahre Schulstrukturreform: „Wir müssen einiges ändern“

Nina Stahr, Co-Vorsitzende der Berliner Grünen, über bessere Schulen und Chancengleichheit, Prioritäten und die Verbeamtungsdebatte.

Auf eine Landesdelegiertenkonferenz der Berliner Grünen wird über einen Antrag abgestimmt - viele Hände mit Abstimmkarten gehem in die Luft

Nina Stahr (im grünen Kleid) auf einer Landesdelegiertenkonferenz der Grünen Foto: Jens Jeske/imago

taz: Frau Stahr, im März steht Ihnen der nächste Grünen-Parteitag ins Haus. Bildung spielt keine Rolle. Hat das gerade keine Priorität bei den Berliner Grünen?

Nina Stahr: Bildung hat für uns immer Priorität. Wir haben zuletzt 2018 einen umfassenden Leitantrag zum Thema beschlossen. Da haben wir uns aufgestellt und die Grundlinien unserer Bildungspolitik festgezogen. Und die gelten. Auf dem letzten Parteitag haben wir dann ganz bewusst das Thema Kinderarmut in den Blick genommen. Denn es gibt ganz viele Stellschrauben, die zum Bildungserfolg von Kindern beitragen, da reicht es nicht, nur auf die Institutionen Kita und Schule zu gucken.

Dass man möglichst früh anfangen muss, dass man früh in die Familien gehen muss, ist ja keine wirklich neue Erkenntnis.

Umso erstaunlicher, dass wir in den Koalitionsverhandlungen 2016 und bis jetzt so um das Familienfördergesetz kämpfen mussten.

Bis jetzt gibt es immer noch keine Gesetzesvorlage.

Nina Stahr

37, in Frankfurt/Main geboren, seit Dezember 2016 Co-Vorsitzende der Berliner Grünen (gemeinsam mit Werner Graf), hat u. a. an der Humboldt-Universität Englisch und Geschichte auf Lehramt studiert. Ihren Wahlkreis hat Stahr in Steglitz-Zehlendorf.

Wir drängen darauf, dass die vorgelegt wird. Denn wir müssen die Prävention und die Familien viel stärker in den Blick nehmen. Da haben wir Grünen bei den letzten Haushaltsverhandlungen auch schon einiges erreicht. Das Flexi-Budget zum Beispiel: Damit stellen wir den Bezirken Geld zur Verfügung, das sie flexibel da einsetzen können, wo es vor Ort nötig ist. Oder dass es zukünftig in allen Bezirken Familienservicebüros geben soll, wo Familien gebündelt alle ihre Amtsgeschäfte an einem Ort erledigen können und Unterstützung bekommen. Das sind alles kleine Puzzleteile. Aber in der Summe erleichtern sie den Alltag vieler Familien und stärken die Kinder und Jugendlichen.

Warum hängt das Familienfördergesetz, das familienfreundliche Projekte und Initiativen stärker vernetzen und fördern will, in der Koalition fest?

Die Bildungsverwaltung von Frau Scheeres [Senatorin Sandra Scheeres, SPD; Anm. d. Red.] muss das umsetzen. Es ist wohl eine Frage der Prioritätensetzung. Denn wie Sie sagen: Dass man früh in die Familien gehen muss, ist ja keine neue Erkenntnis. Und da wäre das Familienfördergesetz ein wichtiger Schritt, weil es konkret die Verteilung von Ressourcen festschreibt und damit die Bezirke finanziell überhaupt erst in die Lage versetzt, hier tätig zu werden.

Zurück zu den Institutionen: Zehn Jahre Schulstrukturreform in Berlin – 2010 wurden Hauptschule und Realschule zur Integrierten Sekundarschule zusammengefasst – sind doch eigentlich ein guter Zeitpunkt, um mal zu überlegen: Reicht das, um dem Ziel von inklusiver Bildung, das auch die Grünen formuliert haben, ein Stück näher zu kommen?

Mir reicht es dann, wenn jedes Kind in Berlin einen Schulabschluss bekommt.

Das ist ja nicht so. Kinder mit nichtdeutscher Muttersprache gehen häufiger ohne Abschluss von der Schule als Deutsch-Muttersprachler. Und die Schulen ohne Oberstufe, also die ohne Abi-Option, sind quasi die alten Hauptschulen und werden von bildungsinteressierten Eltern kaum nachgefragt.

Es ist ein riesiges Problem, dass so viele Kinder aus unserem Bildungssystem rausfallen. Wir fragen uns als Grüne: Woran hakt es eigentlich? Wir sind im Vergleich der Bundesländer das Land, das mit am meisten pro Schülerin und Schüler ausgibt. Und dennoch haben wir diese hohen Quoten von Schülerinnen und Schülern, die ohne Abschluss die Schulen verlassen. Das zeigt, wir müssen einiges ändern.

Da ändert sich seit Jahren nichts, die Quote schwankt immer um die zehn Prozent. Im letzten Schuljahr waren es immerhin nur acht Prozent.

Im internationalen Vergleich wird deutlich: Die Länder, die hier erfolgreich sind, sind die ohne ein gegliedertes Schulsystem. Langes, gemeinsames Lernen scheint ein guter Weg zu sein.

Am Montag beginnt der Anmeldezeitraum für die jetzigen SechstklässlerInnen an den Oberschulen. Jede/r hat einen Erst-, Zweit-, Drittwunsch. Anmeldeschluss ist der 26. Februar.

Die Eltern entscheiden Am Ende der Klasse 6 gibt es eine Förderprognose von der Grundschule: bis 2,2 Durchschnittsnote – errechnet aus zweitem Halbjahr fünfter Klasse, erstem Halbjahr sechster Klasse – wird das Gymnasium empfohlen, ab 2,8 die Integrierte Sekundarschule. Im Bereich dazwischen gucken die LehrerInnen auf weitere Faktoren (Sozialverhalten etc.). Am Ende entscheiden die Eltern (bestenfalls gemeinsam mit dem Kind).

Wünscht euch was Im vergangenen Jahr konnten laut Bildungsverwaltung 90­Prozent der Wünsche erfüllt werden. Dennoch waren 82 Sekundarschulen und 65 Gymnasien „übernachgefragt“. Entscheidend für den Anmeldeerfolg ist die Durchschnittsnote.

Mehr Schulplätze Seit 2017 versucht der rot-rot-grüne Senat mit einer „Schulbauoffensive“ mehr Schulplätze zu schaffen. Bis 2021/22 gibt es laut Schulsenatorin Scheeres (SPD) einen „ungedeckten Bedarf“ von 9.500 Plätzen. Ein Problem sind Personalengpässe in der Bauwirtschaft und der Verwaltung, weshalb die Bezirke die Schulbaumittel bisher nicht richtig ausschöpfen können. (akl)

Deshalb hat man ja auch die Gemeinschaftsschule in Berlin inzwischen als Regelschule im Schulgesetz verankert und ihnen damit etwa feste Einschulungsbereiche im Grundschulbereich zugewiesen.

Das ist auch ein längst überfälliger Schritt gewesen. Aber die Schulform ist nicht alles. Der Ort, an dem ich geboren bin, bestimmt viel stärker, was später aus mir wird.

Die letzte Pisa-Studie im Dezember hat gezeigt: Herkunft wird eher wichtiger, Herkunft trennt. Und ein separierendes Schulsystem unterstützt dieses Trennende.

Es kommt aber doch nicht drauf an, ob eine Schule Gymnasium oder Sekundarschule heißt, sondern darauf, was in den Schulen passiert. Unser Ziel ist, dass alle Schulformen alle Abschlüsse anbieten und allen Kindern, die zu ihnen kommen, die beste Bildung zukommen zu lassen. Es gibt Gymnasien, die alle Kinder mitnehmen und es gibt übernachgefragte Sekundarschulen, die sehr selektieren. Aber es stimmt: In der Breite müssen sich vor allem die Gymnasien ändern.

Sie zielen auf das Probejahr, das die Grünen abschaffen wollen.

Ja, dieser Druck schadet den Kindern. Dieser Umbruch, wenn man gerade den Wechsel von der Grundschule hinter sich hat, das wirkt im Zweifel jahrelang negativ nach. Wir erwarten von den Gymnasien, dass sie umdenken und die Schülerinnen und Schüler, die sie haben, alle zu einem Abschluss führen. Allerdings heißt das auch, dass man die Gymnasien entsprechend ausstatten muss, sich um diese Kinder zu kümmern, sie mitzunehmen.

Klar kann man die Schulen besser machen, die Lehrkräfte schulen, die Sozialarbeit stärken. Aber noch einmal: Das System an sich verstärkt doch eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit.

Die Grundschule ist ja unsere kleine Gemeinschaftsschule. Deshalb wollen wir Grünen sie weiter personell und finanziell stärken. Unser Ziel ist, dass die sechs Jahre Grundschulzeit auch tatsächlich verbindlich sind. Ich erlebe im Bekanntenkreis viele Eltern, die ihr Kind nach der vierten Klasse fürs Gymnasium anmelden, weil sie Angst haben, nach der sechsten Klasse keinen Platz an der Wunschschule mehr zu bekommen. Das ist doch das Problem: Wir haben zu wenige Plätze an Oberschulen, die bei den Eltern beliebt sind. Wenn ich höre, dass Drittklässler weinend nach Hause kommen, weil sie keine eins oder zwei in der Deutscharbeit haben, dann frage ich mich schon: Muss dieser Druck sein?

Aber müsste man nicht die schwachen Schulen stärker machen, statt die beliebten auszubauen?

Wir müssen alle Schulen so aufstellen, dass sie zu nachgefragten Schulen werden.

Wie macht man das?

Man muss dafür sorgen, dass die besten Lehrerinnen und Lehrer an die Schulen gehen, die vor den größten Herausforderungen stehen, um vom Label Problemschule weg zu kommen.

Das ist schwierig. Sie könnten sie ja nicht mal mit kleineren Klassen oder weniger Unterrichtsverpflichtung locken, dafür gibt es schlicht kein Personal.

An der Rütli-Schule hat es funktioniert. Da hat man eine Schule gedreht – und ich frage mich, warum man das nicht auch hinbekommen sollte, bevor es Schlagzeilen gibt.

Mal angenommen, das Bildungsressort bei den Abgeordnetenhauswahlen 2021 würde an die Grünen fallen …

Politik lebt von Inhalten und nicht von Spekulationen. Ich möchte, dass hier die grüne Vision von dem Aufstiegsversprechen, das bislang in Berlin nicht umgesetzt ist, endlich eingelöst wird. Da müssen wir bei den Basics anfangen: Wie kann man die LehrerInnen entlasten? Wir haben zum Beispiel den Vorschlag gemacht, Klausuren von Lehramtsstudierenden korrigieren zu lassen. Das wurde aber sofort abgeblockt. Oder wie oft ich mich als Lehrerin geärgert habe, wenn die Technik schon wieder nicht funktioniert. Das kostet so viel unnötige Zeit. Natürlich kann nicht jeder Studierende Abiklausuren korrigieren, aber wir müssen doch mal kreativ nachdenken und neue Lösungen suchen – denn die bisherigen haben ja offensichtlich nicht funktioniert. Arbeitsbedingungen verbessern, multiprofessionelle Teams, mehr Teamarbeit – wir haben zahlreiche Vorschläge gemacht.

Muss man die Verbeamtungsdebatte in Berlin noch mal führen? Die SPD möchte das gerne, die Linke nicht. Die Grünen?

Es gibt keine validen Zahlen dar­über, warum Lehramtsabsolventinnen und -absolventen die Stadt verlassen. Die hätte ich erst mal gerne. Wenn ich mich mit Lehrerinnen und Lehrern unterhalte, sind oft die wichtigeren Faktoren die Arbeitsbedingungen. Regnet es rein im Klassenraum, fällt mir das Fenster auf den Kopf, wenn ich es öffne, wie ist die Atmosphäre an der Schule. Die Verbeamtungsdebatte kann man dann führen, wenn alle anderen Sachen nicht gezogen haben.

Sollte Berlin nach der Abschaffung der Hauptschulen auch das Gymnasium abschaffen? Quasi eine Schulstrukturreform 2.0?

Mit dem Ergebnis, dass dann viele ihr Kind auf einer freien Schule anmelden? Damit verstärkt man das elitäre, und nicht die Berliner Mischung, die man an den Schulen viel mehr bräuchte. Unser Ziel ist und bleibt das lange gemeinsame Lernen. Wenn alle Schulen alle Abschlüsse anbieten und alle Kinder mitnehmen und zu einem Abschluss führen, gehen wir doch automatisch den Weg zur Gemeinschaftsschule. Meine Vision ist, dass es irgendwann völlig egal ist, auf welcher Schule ich mein Kind anmelde, weil mein Kind an jeder Schule zu einem guten Abschluss gelangt.

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