Zehn Jahre Flüchtlingsschule: Bildung für Rechtlose
Am Münchner Hauptbahnhof gibt es eine Schule, die keine Schule ist, die kein Geld vom Land bekommt – und die mit Jugendlichen lernt, die kein Recht auf Bildung haben.
MÜNCHEN taz | Als er bei Rosenheim aus dem Transporter stieg, konnte Rawan kein Wort Deutsch. Alles, was er von dem Land kannte, in dem landete, war Bayern München. Heute spricht der 17-Jährige fließend Deutsch, in wenigen Monaten wird er seinen Schulabschluss in der Tasche haben. Junge Menschen wie Rawan sind in Deutschland fast immer "hoffnungslose Fälle" - denn mit 16 endet die Schulpflicht. Für junge Flüchtlinge existiert kein Recht auf Schulbildung. Eigentlich.
Doch Rawan hatte Glück. Er traf auf die SchlaU-Schule. SchlaU steht für "schulanaloger Unterricht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge". In der Schillerstraße am Münchner Hauptbahnhof bereiten sich 140 junge Flüchtlinge zwischen 16 und 20 Jahren auf den Hauptschulabschluss vor. Zwischen Rotlicht-Bars und Spielhallen ist die Schule im zweiten Stock eines Bürogebäudes untergebracht. Aushänge im Flur informieren über "Aufenthaltserlaubnis" oder "Duldung und Asyl".
Die Krisenherde der Welt sind in der Schillerstraße zuhause. Ein Drittel der Schüler etwa sind Iraker. "Die innerirakischen Konflikte übertragen sich ins Klassenzimmer", erzählt Michael Stenger, der die Schule gegründet hat. Zuletzt hatte Stenger einen, wie er sagt, "heftigen Jahrgang" - eine Klasse mit zwölf ehemaligen Kindersoldaten aus Sierra Leone. Das größte Problem für die unbegleiteten Flüchtlinge sei ihr "Kopfweh", erklärt er. "Ein Kopfweh, das wir nicht kennen. Die Frage, ob Mama und Papa noch leben - und wenn ja: Wo?" Das ist die größte Lernblockade für seine Schützlinge. SchlaU hat Schülern schon drei Monate fürs Arbeiten frei gegeben - damit sie ihre Familien finanziell unterstützen können.
Das erste Fach in seiner Schule sei immer "Kopf hoch", sagt der Direktor. "Bei dieser belastenden Klientel muss die Persönlichkeit wichtiger sein, es gehört eben dazu, dass wir dem Afghanen beibringen, dass er nicht ,Scheiß-Iraker' sagt." Die Erfolge der Schule sind messbar: Über 90 Prozent der Flüchtlinge haben in den letzten Jahren ihren Hauptschulabschluss geschafft, mit besseren Ergebnissen als im bayerischen Durchschnitt. Fast genauso viele der SchlaU-Schüler bekommen einen Ausbildungsplatz - Zahlen, von denen viele staatliche Hauptschulen nur träumen können. Und das, obwohl viele der Jugendlichen als Analphabeten nach Deutschland gekommen sind.
Rawan kam aus dem Irak nach Deutschland. Der schmächtige Junge ist einer der SchlaU-Schüler, die in ihrer Heimat tatsächlich schon mal eine Schule von innen gesehen haben. "Da war es normal, dass der Lehrer uns geschlagen hat", erzählt er. Seine Mitschülerin Aisha aus Somalia sagt, dass SchlaU für sie eine große Chance sei. Rawan nickt. Im Irak habe er nach dem Krieg Probleme bekommen, weil er kein Moslem ist. Fast einen Monat war er auf der Flucht, in einem Lastwagen aus der Türkei fuhr er durch Europa. Sechs Tage lang durfte er ihn nicht verlassen. Bei Rosenheim entließ ihn der Fahrer in eine ungewisse Zukunft. Rawan landete auf der SchlaU-Schule. Drei Jahre darf er auf jeden Fall noch in Deutschland bleiben. "Ich weiß noch nicht, was ich werden will", sagt er schüchtern, "erst muss ich noch überlegen, wo meine Stärken liegen." Seine Klassenkameradin Aisha ist da schon weiter: "Ich will gerne Informatikerin werden".
"Man muss die Lebensvoraussetzungen der Menschen, für die man Schule macht, kennen", sagt Schulleiter Michael Stenger. "Obwohl wir Schüler aus allen Kriegsgebieten und Religionen haben, leiden alle am gleichen Problem", sagt der 50-Jährige: "Sie sind entwurzelt. Sie nennen uns oft Mama oder Papa."
Michael Stenger gründete die Schule im Jahr 2000 mit einigen Mitstreitern aus der Flüchtlingsarbeit. "Anfangs war ich auch Lehrer und Sozialpädagoge", erinnert er sich lachend, "mittlerweile bin ich nur noch Schulleiter und Geschäftsführer." Seit 2005 führt die Schule auch zum Hauptschulabschluss, der an einer staatlichen Schule abgenommen wird. Die Motivation ist seitdem größer geworden. Pünktlichkeit ist eine der Eigenschaften, auf die die SchlaU-Pädagogen besonderen Wert legen. Nur vereinzelt schlüpft kurz nach neun Uhr noch ein Schüler ins Klassenzimmer. Wenn einer der Flüchtlinge zu spät kommt, kann er oft nichts dafür: Regelmäßig geraten die Jugendlichen in Ausländerkontrollen der Polizei, die dafür verantwortlich ist, dass sie sich verspäten.
"Dass über die Flüchtlinge gesprochen wird, als wären das alles schwierige Leute, ist eine Unverschämtheit", ereifert sich Stenger, "das sind Leute in schwierigen Lebenssituationen, die zu Teil schwer traumatisiert sind, die brauchen viel Zuspruch." Seine Lehrer besuchen Fortbildungen zu Asylfragen oder zum Umgang mit Traumatisierten. Die meisten der Pädagogen haben keine klassische Lehrer-Ausbildung, sondern haben "Deutsch als Fremdsprache" studiert. Fast die Hälfte der SchlaU-Stunden dient denn auch dem Erlernen der Sprache.
Die Schule stößt inzwischen an Grenzen. Chemie und Physik können in den engen Räumlichkeiten nicht angeboten werden - was für die SchlaU-Schüler oft zum Problem wird, wenn sie anschließend die Berufsschule besuchen. 30 ehemalige Berufsschullehrer geben daher Einzel-Nachhilfe für die Absolventen - ehrenamtlich. Die Betreuung der Schüler endet nicht mit dem Schulabschluss. Bei der Ausbildungsplatzsuche stehen Schulleiter Stenger und seine Mitstreiter den jungen Leuten ebenso zur Seite wie während der Lehre.
Die Schule kann längst nicht mehr alle Interessenten aufnehmen. 200 Jugendliche bewarben sich im letzten Jahr auf 40 Plätze. Mit einem Gespräch und einem Test versuchen die Pädagogen herauszufinden, wer in welche Klasse hineinpassen könnte. Der große Bedarf liegt auch daran, dass der Staat keine derartigen Angebote schafft. "Dabei ist es doch nur zum Wohle des Staates, wenn man die Leute nicht sprachlos im Lager lässt", wundert sich Michael Stenger. "So sagen sich die jungen Leute doch nur, dass sie eh keine Chance haben." Das Geld kommt von einem Stiftungskreis, von der Stadt München und aus dem Europäischen Sozialfonds. Vom für Bildung zuständigen Land Bayern sieht die Schule hingegen keinen Cent.
Ein Problem, das bundesweit existiert. "Die jungen Flüchtlinge haben im Regelfall keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugang zu Bildung", sagt Thomas Berthold vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge; wenn überhaupt, gebe es häufig nur Sprachkurse in den Heimen. "Unabhängig von der Farbenlehre der Regierungen ist das ein Problem in allen Bundesländern", sagt er. Einzelne Kommunen, Schulleiter oder Initiativen seien es, die sich - wenn überhaupt - um die jungen Flüchtlinge kümmerten. "Der Staat missachtet eine seiner Kernaufgaben", kritisiert Berthold, "er muss sich um die Schulbildung aller Jugendlicher kümmern."
Die finanzielle Unsicherheit ist auch für SchlaU ein großes Problem. Er könne zwar mittlerweile für drei Jahre statt für drei Monate planen, erklärt Michael Stenger, "ich bin aber vorsichtiger geworden." Expansionspläne der Schule liegen derzeit auf Eis. "Bevor wir hier nicht alles finanziell überschauen, müssen wir nicht über Nürnberg und Berlin nachdenken", sagt Stenger.
Zunächst einmal feiern die SchlaU-Aktiven den zehnten Geburtstag der Schule. Erwartet werden hunderte Ehemalige - darunter etliche Studenten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge