YouTube fördert die Raserei: Je gefährlicher, desto mehr Klicks
Die meisten Moto-VloggerInnen fahren verantwortungsbewusst. Wer das nicht tut, kann damit richtig Geld verdienen.
Schnitt. Kurz darauf, Baustellenabschnitt und Fahrbahnverengung auf zwei schmale Spuren, 80 und Überholverbot, wir überholen mit mehr als 110. Dabei sagt Blackout: „Deswegen nochmal der Appell an euch: Übertreibt es nicht. Versucht, nicht zu viel anzugeben. Schätzt euch richtig ein und immer vorsichtig.“ Blackout nennt sich Moto-Vlogger. Er filmt seine Fahrten mit einer Action-Cam und hat ein Mikro im Helm.
Erneuter Schnitt, Autobahnauffahrt, die A39 nach Lüneburg, zwei Spuren, wenig Verkehr. Wir folgen Blackouts Schulterblick. Gestrichelte Linie, seine rechte Hand gibt Vollgas. Der Motor der Ducati Panigale macht Krach. Die 195 PS der Maschine sorgen dafür, dass wir zehn Sekunden später mit 215 Stundenkilometern über die linke Spur donnern. Dann schaltet Blackout in den sechsten Gang. Er fährt die Ducati aus. Der Tacho nähert sich den 300. 280, die Landschaft fliegt vorbei. 290, der Motor brüllt. 295, zwei rote LEDs am Tacho springen an. 299. Der Tacho bleibt stehen. Blackout versucht, weiter zu beschleunigen.
Der Tacho springt nicht mehr auf 300. Zeit, darauf zu achten, hat Blackout sowieso nicht. Der kleinste Fehler könnte ihm das Leben kosten. Das Motorrad ist an der Grenze, es ist höllisch laut. Fahrtwind, Straße, Landschaft: ein einziges Rauschen. Blackout duckt sich hinter dem Windschutz. Die Autobahn ist zweispurig. Man hofft, dass niemand auf seine Spur ausschert und dass die Fahrbahn sauber ist. Man will sich mit ihm an das Motorrad klammern. Als er wieder langsamer wird, schreit Blackout: „Junge, das ist der Hammer! Das ist der Wahnsinn! Wuuuu!“ Seine Stimme überschlägt sich: „Einmal in meinem ganzen Leben 300 fahren – ich hab’s gemacht. Was ein Gefühl!“
120.000 Abonnenten, 11 Millionen Aufrufe
Das Motorrad gehört nicht einmal ihm. Er hat es in Hamburg für eine Probefahrt geliehen. Am Ende des elfminütigen Youtube-Videos ist er fast in Lüneburg. Er sagt: „Wenn ihr meinen Adrenalinrausch feiert, lasst mir auf jeden Fall mal ein Like da!“ Blackout schließt mit seiner Catch-Phrase: „Macht’s gut, ihr Landratten.“ Dann kommt der Abbinder: Zu Autoscooter-Techno wird Merchandise eingeblendet. Hoodies mit Ratten-Motiv für seine rund 120.000 Abonnenten. In anderen Videos fährt er im Wheelie und mit deutlich erhöhter Geschwindigkeit durch Hamburg, liefert sich spontane Rennen mit „richtig geilen Karren“ oder filmt einen seiner Kollegen, der bei circa 180 km/h fast eine Minute lang im Wheelie auf der linken Autobahnspur fährt. Seine Videos haben insgesamt 11,6 Millionen Aufrufe.
Nur wenige Moto-Vlogger sind so bekannt, dass sie eine Fangemeinde haben. Vlog steht für Videobloggen und bedeutet soviel wie Videotagebuch führen. Die große Mehrzahl der Moto-Vlogger macht tatsächlich genau das. Sie führen beim Fahren ein Videotagebuch für sich und einen meist kleinen Kreis Gleichgesinnter. So wie der Lüneburger „Kradmelder24“. Er fährt seit 30 Jahren Motorrad. In seinen Videos hält er sich grundsätzlich an die Verkehrsregeln. Autobahn fährt er nicht gern.
Malerische Reiseerinnerungen
Seine Vlogs sind gleichzeitig Reiseerinnerungen. Sein „Jahresrückblick 2016“ wirkt wie die Motorradversion der „schönsten Bahnstrecken Deutschlands“. Er fährt über Serpentinen-Straßen durch malerische Alpenlandschaften. Dazu spielt Musik, die so belanglos dudelt, dass sie eigentlich nur gemafrei sein kann. Einmal läuft eine Kuh auf die Straße.
Seine Motorradfreunde nennen „Kradmelder24“ Fritze. Durch „klickgeile Youtuber“ wie Blackout befürchtet er, dass sein Hobby und viele harmlose Moto-Vlogger stigmatisiert werden. Er sagt: „Ich kann mich mit der hirnlosen Raserei überhaupt nicht identifizieren. Für mich sind das keine Moto-Vlogger, sondern Youtuber.“ Zu einem Moto-Vlog gehört für Fritze, dass man beim Fahren über ein bestimmtes Thema redet und nicht nur emotional auf seine Raserei reagiert.
Laut Fritze gibt es in der Szene ein grundsätzliches Dilemma: „Die Leute, die sich wie ’ne wilde Sau verhalten, haben leider auch die meisten Klicks. Ihre Abozahlen hängen an der Gashand.“ Sein Kanal „Kradmelder24“ hat nur 130 Abonnenten. Auf seinem Blog kradmelder24.de regt er sich über Raser und ihre „Fanboys“ auf, die deren Fahrweise verteidigen und mit Abos unterstützen.
Seit anderthalb Jahren gebe es vermehrt jüngere Vlogger, die sich durch Rasen profilierten, sagt Fritze: „Die Masse ihrer Abonnenten sind Kinder und Jugendliche. Also irgendwo zwischen Mofa und erstem Motorrad.“ Blackout und andere „fahren die 200-PS-Maschinen, die bei den 14-Jährigen als Poster an der Wand hängen.“
„Eine Vorbildfunktion“
Blackout ist selbst erst 23 und derzeit in Neuseeland. Dennoch antwortet er per Mail: „Ich habe auf jeden Fall eine Vorbildfunktion, obwohl ich diese immer versuche abzuweisen. Ich möchte niemandem ein Vorbild sein.“ Niemand soll seinetwegen schnell fahren oder Wheelies probieren, sagt er. Er habe noch nicht lange so viele Klicks und wegen „meiner Verantwortung gegenüber Fahranfängern distanziere ich mich auch mehr und mehr von dieser Fahrweise.“
In seinem Merchandise-Shop sieht das anders aus: Dort steht unter den Landratten-Hoodies für 37,90 Euro: „Seid ihr bereit ein Teil der Landrattencrew zu werden? Dann schnappt euch was von dem guten Zeug!?“ Autogrammkarten werden unaufgefordert beigelegt. Unter den Produkten kann man ein Bild von sich und seinem Landratten-Hoodie hochladen. Hauptsächlich Kinder und Jugendliche haben das gemacht.
„Man kann richtig viel verdienen“
Dass man auch mit den Videos einiges verdienen kann, bestätigt einer der ersten Moto-Vlogger in Deutschland: Er ist als „Vinzler“ bekannt und filmt seine Fahrten seit 2007. Er sagt: „Man kann richtig viel verdienen, wenn man weiß, wie.“ Dafür muss man lediglich Partner von Youtube werden. Erledigt ist das mit ein paar Angaben und wenigen Klicks. Anschließend kann man vor seinen Videos Werbung schalten lassen. Die ausgespielten Werbeclips werden gezählt, danach fließt Geld auf das Konto. Es kommt von Google, das Youtube 2006 für 1,6 Milliarden Euro kaufte.
Nach Vinzlers Erfahrung bekommt man für 1.000 Aufrufe zwischen einem und 1,50 Euro gezahlt. Er selbst habe mit seinen rund 15.800 Abonnenten im Laufe der Zeit 4.000 Euro verdient: „In den besten Zeiten habe ich um die 300 bis 400 Euro im Monat gemacht. In den schlechteren waren es 100 bis 150 Euro.“ Es wäre deutlich mehr, wenn er nicht vernünftig fahren würde, sagt er.
Entsprechend anders müsste es nach dieser Rechnung bei Blackout aussehen: Der hätte danach seit seiner Kanalanmeldung im Mai 2016 mit 11,6 Millionen Klicks mindestens 11.000 Euro mit Werbung verdient. Blackout schreibt: „Ein nettes Taschengeld ist schon drin“, aber es reiche leider nicht zum Auskommen. Nebenher arbeite er als Barkeeper: „Ich würde mich nie auf Youtube als einzige Einkommensquelle einlassen.“ Denn was, wenn morgen die Klicks ausbleiben?
„Vinzler“ war mit Blackout und dessen Vlogger-Crew namens „Landratten“ eine Zeit lang in einer Whatsapp-Gruppe. Er sagt: „Da ging es hauptsächlich ums Geldverdienen: Wie nehme ich am allerschnellsten den Fans das Geld aus der Tasche?“ Die Landratten-Crew unterhielt sich fast ausschließlich über Merchandise und klickträchtige Youtube-Formate. Vinzler sagt: „Mir ist das dermaßen auf den Sack gegangen, dass ich nie etwas geschrieben habe.“ Er glaubt, dass er deswegen auch wieder aus der Gruppe geflogen ist.
Einen 75-jährigen totgefahren
Noch rasanter als Blackout fuhr der Bremer Moto-Vlogger „Alpi fährt“. Nachdem er bei einer Fahrt mit über 100 km/h innerorts einen 75-Jährigen totgefahren hatte, stellte er seinen Kanal mit rund 85.000 Abonnenten auf privat. Im Monat vor der Tat verdiente er mit Youtube 900 Euro.
Unter Blackouts Videos stehen oft Kommentare wie: „Mein neuer Alpi <3.“ Blackout sagt in einem seiner Videos dazu: „Ihr könnt das gerne schreiben. Aber ihr sollt wissen, dass es nicht so ist. Und dass ich das auch ein bisschen als Kompliment sehe.“ Über Alpis Unfall will er nicht reden, dafür aber über dessen Videos, die eine Grundlage für die Mordanklage waren: „Seine Videos haben mir gefallen. Er war ein cooler Typ, vom Menschlichen.“
Den gesamten Schwerpunkt zu diesem Thema lesen Sie am Wochenende in der gedruckten taz.nord oder hier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen