Woodstock-Doku: 172 Blasen an den Füßen
Ein neuer Dokumentarfilm will den Geist von Woodstock einfangen, wie er noch nie zuvor zu sehen war. Verspricht er zu viel?
Es ist nicht das erste Woodstock-Jubiläum. 1994 wurde schon einiges an Bohei um Woodstock II gemacht – Country Joe McDonald und Joe Cocker waren wieder mit von der Partie. Wer 1969, sagen wir, 19 Jahre alt gewesen ist, war 94 auch erst 44. Aber wenn man in jenem Jahr, also 1994, selbst gerade mit 19 Jahren den Sommer im Nordosten der USA verbracht hat, erschien einem eben das – 1991 gegründete – Lollapalooza (mit The Smashing Pumpkins und den Beastie Boys) als die coolere Festival-Entscheidung. Inzwischen ist Lollapalooza älter, als Woodstock damals war, und hat sogar einen Ableger in Berlin, was ein heute Neunzehnjähriger bestimmt furchtbar uncool findet, wenn er seine Karten fürs Melt! bucht.
Sie sehen so jung aus, die jungen Leute, und so vertraut. Was sicher auch daran liegt, dass die Modebranche alle paar Jahre ein neues Hippie-Revival ausruft. Sie sehen so aus in einem neuen Woodstock-Dokumentarfilm, den die ARD am Mittwochabend aus gegebenem Anlass zeigt. Der Filmautor Barak Goodman verzichtet nämlich ganz auf Bilder greiser Talking Heads, die einem erzählen, wie das damals so war. Sie dürfen zwar erzählen, aber nur aus dem Off. Goodman wiederum verzichtet auf einen eigenen Off-Kommentar. Ausschließlich Originalaufnahmen – von Zeitzeugen kommentiert. Der kürzlich auf Arte gelaufene dreiteilige Dokumentarfilm („Die Eroberung des Mondes“) von Robert Stone zum fünfzigsten Jahrestag der Mondlandung, funktionierte bereits nach genau diesem Prinzip. Und das Prinzip funktioniert sehr gut. Wenn die Bilder so gut sind.
Das war 1969: Männer, die in weißen Kurzarmhemden mit Krawatte in einem Kontrollraum auf Monitore starren. Und das war 1969: Blumenbekränzte Menschen in Hot Pants und Schlaghosen, die friedlich feiern oder im Schlamm knutschen – auch mal ohne Hosen. Dazu aus dem Off: „Ich dachte, wenn 400.000 Menschen völlig gewaltfrei und ohne Konflikte zusammenkommen konnten, dann würden wir es schaffen, diese Liebe in die Gesellschaft zu tragen und die Welt zu ändern.“ Was man als ehemaliges (oder ewiges) Blumenkind eben so sagt.
Die Organisatoren waren naiv, aber hatten ein glückliches Händchen: „Die ganze Bandbreite an medizinischen Zwischenfällen, die man sich vorstellen kann, tritt während 72 Stunden ein. Genau wie in einer Stadt mit 400.000 Menschen.“ Ein „Woodstock Medical Log“ überschriebenes Dokument belegt die Behandlung von 172 Blasen an den Füßen, 19 Knochenbrüchen, elf Rattenbissen, neun Sonnenstichen. Vier Besucher ließen ihre Hämorrhoiden versorgen.
„Woodstock – Drei Tage, die eine Generation prägten“, Dokumentarfilm, ARD, 22.45 Uhr
Bedrohlicher als die „Toilettenkrise“ war das Ausgehen der Lebensmittel. Die freundlichen Einheimischen kochten rasch Hunderttausende von Eiern: „Wir waren vielleicht Hinterwäldler. Aber wir hießen Fremde willkommen, wie es in der Bibel steht.“
„Die Kamerateams haben den Geist von Woodstock eingefangen, wie er nie zuvor zu sehen war“, verspricht der Pressetext zum Film. Nie zuvor? Aber es gibt da doch bereits jenen dreistündigen, zu seinem 25. Jubiläum um 40 Minuten ergänzten Film „Woodstock“ (am 16. 8. um 22.10 Uhr auf Arte) von Michael Wadleigh aus dem Jahr 1970. Aus den Hunderten von Stunden des dafür nicht verwendeten Archivmaterials hat Goodman sich für seinen neuen Film bedienen dürfen. Es mag also sein, dass die konkreten Bilder noch nie zuvor zu sehen waren. Und es sind großartige Bilder, keine Frage. Aber sie sind weder besser noch wesentlich anders als die Bilder aus dem bekannten Film. Die den „Geist von Woodstock“ betreffende Ankündigung ist also blanker Unsinn. Wer so mit den Worten klingelt, muss sich gleichwohl daran messen lassen.
Und da muss man dann sagen: Der „alte“ Film räumt den Auftritten der Musiker viel mehr Raum ein; er macht die Umstände seiner Entstehung, die Dreharbeiten zu einem Thema des Films; er entspricht der Gleichzeitigkeit der vielen Ereignisse durch den virtuosen Einsatz der Split-Screen-Technik; er ist viel dynamischer geschnitten – unter anderen von Martin Scorsese.
Doch, Goodman hat da einen sehr sehenswerten neuen Woodstock-Film gemacht. Der aber gegenüber dem Film von Michael Wadleigh keinen besonderen Mehrwert aufweist.
Und bevor sich nun jemand daranmacht, den Geist von Lollapalooza einzufangen: „Homerpalooza“, der 24. Folge der 7. „Simpsons“-Staffel, ist das bereits auf die ultimative Weise gelungen.
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