Wolfgang Kraushaar über den Prager Frühling: "Das 20. Jahrhundert ist vorüber"
Der Historiker und Doyen der Rebellionsgeschichte Wolfgang Kraushaar sagt, dass vom Sozialismus und Kommunismus nur noch Worthülsen übrig seien.
Wir sind im Barcomis verabredet, in Berlins Mitte eine der wichtigsten Adressen der chicen Jugend der Hauptstadt und ihrer Besucher - ein Hinterhofquartier, das vor der Wende zum sozialistischen Berlin gehörte und schließlich zum magischen Ort Berlins wurde, ein Viertel mit Galerien, Cafés und einem Flair von Zufriedenheit. Wolfgang Kraushaar sagt, er kenne das Lokal nicht, freue sich aber, es einmal zu sehen. Zweieinhalb Stunden dauert das Gespräch mit dem Chefchronisten der Achtundsechzigerbewegung, dem wichtigsten Rechercheur der ideologischen und politischen Gemengelagen der Bundesrepublik der Nachkriegszeit.
taz.mag: Herr Kraushaar, vor vierzig Jahren marschierten die Armeen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein, um dem sogenannten Prager Frühling mit Gewalt ein Ende zu machen. Wie hat die Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik den Aufbruch im Osten und seine Niederschlagung wahrgenommen? Hat sie einfach weggesehen?
Wolfgang Kraushaar: Die Haltung war ambivalent, gespalten und gebrochen. Erkennen kann man das an den internen Streitigkeiten, die es im Sozialistischen Deutschen Studentenbund, dem SDS, über diese Ereignisse gab.
Rudi Dutschke war Anfang April 1968 nach Prag gereist, um an der Karlsuniversität aufzutreten.
Dutschke hatte für die Reise jedoch nicht den Segen des SDS-Bundesvorstands. Im Gegenteil: Während seines Aufenthalts in Prag kam in Frankfurt eine Außerordentliche Delegiertenkonferenz des SDS zusammen, bei der ein Sprecher der prokommunistischen Fraktion den Antrag stellte, Dutschke aus dem SDS auszuschließen. Das war ein unglaublicher Vorgang, auch wenn über den Antrag letztlich nicht befunden wurde. Nach dem Einmarsch in Prag gab es im SDS erbitterte Auseinandersetzungen darüber, ob man dagegen demonstrieren sollte oder nicht.
Und?
Nicht wenige lehnten solche Demonstrationen mit der Begründung ab, man dürfe dem Klassenfeind nicht in die Hände arbeiten, indem man eine antikommunistische Position beziehe.
Gab es denn überhaupt keine Sympathie für den sogenannten "Sozialismus mit menschlichem Antlitz"?
Ich glaube, dass selbst diejenigen, die gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings protestiert haben, im Grunde ihres Herzens mit den Reformbestrebungen in Prag nicht wirklich einverstanden waren. Nehmen wir zum Beispiel die Argumentation von Hans-Jürgen Krahl, der neben Dutschke der Sprecher der antiautoritären Fraktion im SDS war und der als der theoretisch klügste Kopf der Studentenbewegung galt. Zwei Wochen nach dem Einmarsch legte er bei einem Teach-in in Frankfurt am Main dar, dass mit den Reformen des Prager Frühling auch kapitalistische Marktprinzipien und damit eine Art von Sozialdemokratismus durchgesetzt werden sollten. Die Achtundsechzigerbewegung und diejenigen, die sich als Neue Linke verstanden, kämpften sozusagen an zwei Fronten: an der einen gegen die Sozialdemokratie. Man wollte nicht so werden wie die SPD, aus der man gerade erst herausgeflogen war. Andererseits wollte man aber auch nicht stalinistisch werden wie der Ostblock. Aber so sein wie Alexander Dubcek, das wollte man nun auch nicht.
Was gab es am Chef der Kommunistischen Partei der CSSR auszusetzen?
An Dubcek als Person gab es kaum Kritik. Er trat ja als ein eher softer Parteiführer auf, der vorsichtig für einen Reformkurs eintrat. Das konnte man im SDS schon nachvollziehen, dass er lavieren musste. Der springende Punkt war jedoch, dass der Reformversuch von der Parteispitze unternommen wurde. Im SDS hätte man es lieber gesehen, wenn es den Druck aus der Bevölkerung heraus, von der viel beschworenen Basis, gegeben hätte.
Der Prager Frühling war doch in den Reihen der Kommunistischen Partei am heftigsten umstritten.
Das stimmt. Jetzt allerdings im Rückblick sagen zu wollen, die damit verbundenen Hoffnungen seien von Anfang an illusionär gewesen, weil die Sowjetunion als Hegemonialkraft im Ostblock ohnehin keine Reformen zu lassen konnte, fände ich besserwisserisch und ziemlich arrogant.
Die Zeit des Prager Frühlings ist mindestens so legendär wie die der APO. Liegt das an seiner Niederschlagung? Oder an dem utopischen Gehalt, der in der Bewegung steckte?
Ich denke, es hat mit beidem zu tun. Dass der Prager Frühling niedergeschlagen wurde, hat sein romantisches Projektionspotenzial zweifellos erhöht. Nehmen Sie doch nur die früh verstorbenen Größen in der Rockmusik, also Jimi Hendrix, Janis Joplin und Jim Morrison. Man weiß ja nicht, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie heute noch leben würden. Das Gleiche gilt für den Prager Frühling. Außerdem kommt noch eine Art von Charmefaktor dazu: Ein kleines, aufmüpfiges Land lehnt sich gegen die übermächtige Definitionsmacht Sowjetunion auf.
In der noch sozialistischen Tschechoslowakei (CSSR) brodelte es seit den mittleren Sechzigerjahren: Aus der Kommunistischen Partei wie aus den Universitäten gab es Versuche, die realsozialistischen Betonplatten aus dem Land zu entfernen. Meinungsfreiheit sollte wieder gelten, auch gewisse marktwirtschaftliche Freiheiten sollte es geben.
Die Sowjetunion erkannte in dieser Experimentierlust einen Angriff auf ihre Hegemonie. Am 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR ein, um dem Prager Frühling ein Ende zu bereiten. DDR-Truppen waren auf Geheiß Moskaus nicht involviert. Alexander Dubcek, Symbolfigur des Aufbruchs, musste von allen Führungsämtern zurücktreten; er kam 1992 bei einem Autounfall ums Leben. Für die marxistische Linke Westeuropas war mit dem Ende des Prager Frühlings alle Illusion getilgt, der realsozialistische Block lasse sich reformieren - vom "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" war als Projekt keine Rede mehr. Die Charta 77 war eine Initiative von tschechoslowakischen Bürgerrechtlern im Jahre 1977, an der u. a. auch der spätere Präsident Tschechiens, Václav Havel, beteiligt war. Sie wies mit internationaler Resonanz auf Menschenrechtsverletzungen in der CSSR und Osteuropa hin. Herbert Marcuses Schrift "Der eindimensionale Mensch" erschien in den USA 1964; sie gilt als eines der Standardwerke der Achtundsechzigerbewegungen. JAF
Eine Idee, die bis heute strahlt?
Der Prager Frühling ist eine Idee der Vergangenheit. Sie hat keine politische Bedeutung mehr. Die Konstellation, auf die sie sich bezog, existiert nicht mehr. Es kostet nichts, sich romantisch an den Prager Frühling zurückzuerinnern. Damit ist keine politische Option für die Gegenwart oder die Zukunft verbunden.
Hatte der Aufbruch in der Tschechoslowakei wenigstens eine Ausstrahlung auf die Außerparlamentarische Opposition im Westen?
Nein, nicht wirklich. Sehen sie, es gab damals die Redewendung vom "Sozialismus mit menschlichem Antlitz", Sie haben sie gerade auch in einer Ihrer Fragen verwendet. Ich finde diese Parole ziemlich abstrus, weil sie im Grunde genommen besagt, dass der Sozialismus im Kern unmenschlich ist und man ihm deshalb ein menschliches Antlitz aufdrücken muss.
Eine schöne Verpackung für einen verdorbenen Inhalt?
Das kann man so sehen. Die Parole war jedenfalls unfreiwillig verräterisch. Es ist aber schwer zu sagen, wie sich der Prager Frühling ohne die Invasion entwickelt hätte. Es hätte sicherlich enorme Widerstände gegeben, etwa in der Wirtschaftspolitik. Ob es der Tschechoslowakei gelungen wäre, den Warschauer Pakt zu verlassen, ist sehr fraglich, wie man am Beispiel Ungarn sieht, das das ja 1956 ohne Erfolg versucht hat.
Wie kommt es, dass Achtundsechzig und Prager Frühling heute meist in einem Atemzug genannt werden?
Wenn das geschieht, dann liegt hier ein Irrtum vor. Die Auswirkungen des Prager Frühlings auf die APO und die Achtundsechzigerbewegung in der Bundesrepublik blieben sehr gering. Im Nachhinein werden am ehesten der Pariser Mai und der Prager Frühling zusammen zitiert, weil es in West und Ost zur selben Zeit diese Art von Aufbruch und Revolte gegeben hat. Dieses Bild verkleistert zugleich aber die großen Differenzen, die es gab. Ich will nur die Anekdote von dem tschechischen Regisseur Milos Forman anführen, der im Mai 1968 bei den Filmfestspielen in Cannes anwesend war. Diese Festspiele sind nach einer Initiative von Jean-Luc Godard und François Truffaut gesprengt worden.
Weshalb?
Sie meinten, während in Paris Demonstranten von der Polizei niedergeknüppelt werden, könne man an der Côte dAzur nicht einfach weitermachen, als sei nichts geschehen. Forman hatte sich beiden angeschlossen und war ebenfalls nach Paris gereist. In Interviews erklärte er später: "Ich verstand die Welt nicht mehr, als ich nach Paris kam. Die hatten überall rote Fahnen aufgehängt. Während sie die roten Fahnen gehisst haben, haben wir in Prag versucht, sie herunterzureißen. Die wussten überhaupt nicht, wofür die rote Fahne stand."
Rote Fahnen herunterzureißen: steht das für Liberalisierung in einem bürgerrechtlichen, freiheitlichen Sinne? Stand Liberalisierung etwa nicht auf der Agenda der Achtundsechziger?
Befreiung wurde zwar ständig gefordert, aber nicht in einem liberalen Sinn. Vom Liberalismus hat sich die APO ja distanziert. Auch von den Institutionen der bürgerlichen Demokratie, wie man das meinte bezeichnen zu müssen. Die Liberalen wurden bei jeder Gelegenheit als "Scheißliberale" beschimpft.
Heinrich Böll bekam dies Etikett ebenfalls verpasst.
Richtig, es traf auch Leute, die mit der APO sympathisierten und kooperierten.
Nicht wenige sehen im Prager Frühling im Vergleich zum westlichen Achtundsechzig das historisch bedeutendere Ereignis, weil mit der Niederschlagung des Versuchs, den Sozialismus zu liberalisieren, die Charta 77 auf die Tagesordnung kam - und damit der Anfang vom Untergang des realen Sozialismus.
Diese Perspektive überzeugt mich nicht. Natürlich ist die Charta 77 nicht zu unterschätzen, aber das wichtigere Land in Osteuropa ist zweifelsohne Polen gewesen - mit der Gründung von Solidarnosc Anfang der Achtzigerjahre. Es gab natürlich verschiedene Vorstufen von Solidarnosc, wie etwa die fliegenden Universitäten in den Siebzigern. Bereits 1966 hat es in Warschau eine Universitäts- und Studentenrevolte gegeben. Der spätere Dissident Adam Michnik hat bereits damals eine wichtige Rolle gespielt. Es gab ein großes systemkritisches Potenzial, an das die Solidarnosc 1980 anknüpfte. Man darf außerdem nicht übersehen, dass es von 1978 an einen polnischen Papst gab, der einem bestimmten Milieu in Polen maßgeblich den Rücken gestärkt hat. Diese katholische Prägung hat dem Protestpotenzial ein besonderes Rückgrat verliehen. Solidarnosc hat insgesamt eine viel größere Rolle gespielt.
Was hat sich denn in der DDR abgespielt zur gleichen Zeit, da in Prag der Prager Frühling niedergewalzt wurde und in Westberlin die Studentenbewegung alle beschäftigte?
In Ostberlin waren die Menschen durchaus informiert. Sie hatten von der Kommune 1 gehört, dem SDS und wussten von der Auseinandersetzung um den Springer Verlag. Das Attentat auf Dutschke, der Vietnamkongress - all das hat man dort ja mitbekommen. Und die jungen Leute hatten durchaus ähnliche Orientierungen, insbesondere was den Musik- und Modegeschmack anging. Sie konnten das im Gegensatz zum Westen aber nicht zum Ausdruck bringen. In einem rigiden System wie der DDR gab es keine Freiheitsräume, in denen solche Orientierungen als Experimente erlaubt waren. Aus den Nischen heraus war es nicht möglich, ein eigenes Milieu zu bilden. Wenn man etwa die Humboldt-Universität im Osten mit der Freien Universität im Westen vergleicht, dann herrschte, was das Protestpotenzial angeht, in Ostberlin weitgehend Grabesruhe.
Anfänglich hat doch die Jugendorganisation der SED, die FDJ, mit der Studentenbewegung durchaus sympathisiert.
Ja, aber das bezieht sich vor allem auf das Jahr 1967. Es wird viel zu wenig wahrgenommen, wie seitens der SED versucht wurde, das linke Potenzial der APO auf die eigene Seite zu ziehen. Da verriet sich zum Beispiel an einer Rede von Walter Ulbricht im Sommer 1967, in der er, der starke Mann der DDR, sich für die Unterstützung der westdeutschen Studentenbewegung aussprach. Es gab auch symbolische Aktionen wie etwa den Trauerkonvoi für den erschossenen Studenten Benno Ohnesorg. Auf der Fahrt von Westberlin nach Hannover standen tausende FDJ-Mitgliedern an der Transitstrecke Spalier, um dem Toten ihre Reverenz zu erweisen. Finanzspritzen hat es auch gegeben, so ist die Demonstration vom 1. Mai 1968 in Westberlin maßgeblich vom Osten finanziert worden. Doch dann kam der Umschwung. Die SED entschied sich im Laufe des Jahres 1968 dafür, im Westen die SDAJ, die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend, zu gründen. Im Sinne der DDR sollte das Potenzial der Jugendbewegung abgeschöpft werden.
Aus welchen Gründen - kulturell stand die Studentenbewegung dem Realsozialismus ja nicht gerade nahe?
Nach dem Verbot der KPD in Westdeutschland 1956 gab es keine legale Organisation mehr, die im Sinne der SED in der Bundesrepublik aktiv sein konnte. Deshalb war das Interesse an der Achtundsechzigerbewegung so groß. In einem zweiten Schritt wurde dann im September 1968 die Deutsche Kommunistische Partei, die DKP, gegründet.
Welche Folgen hatte das für die Achtundsechzigerszene und die APO?
Die Konflikte innerhalb des SDS hatten sich ohnehin zugespitzt. Bei den Weltjugendfestspielen in Sofia im Juli und August 1968 kam es sogar zu Schlägereien. Der SDS-Bundesvorsitzende Karl Dietrich Wolff wurde von bulgarischen Geheimdienstleuten verprügelt - unter tätiger Mithilfe prokommunistischer SDS-Mitglieder. Im September 1968 wurden die Schläger dann aus dem SDS ausgeschlossen.
Das hat doch bestimmt die Traditionalisten und die Antiautoritären noch stärker entzweit, oder?
Tatsächlich hat es das. In der Konsequenz wurde später der MSB Spartakus gegründet, ein der DKP wie der DDR weitgehend höriger Studentenverband. Damit gab es eine klare Trennung.
Bei allen Differenzen: Beide Strömungen - sowohl die dem Realsozialismus zugewandte wie auch die antiautoritäre - einte doch der Glaube an den Sozialismus, der alle Welt besser machen würde, oder?
Ich glaube, der große Irrtum von Achtundsechzig bestand in der wahnhaften Überzeugung, ein sozialistisches Projekt auf Biegen und Brechen umsetzen zu müssen. In dieser Hinsicht waren sich alle Fraktionen einig. Gerade in der Gegenüberstellung zur Sowjetunion und der DDR hat aber kaum einer Rechenschaft darüber abgeliefert, was im Namen des Sozialismus im 20. Jahrhundert bis dahin bereits geschehen war.
Sie sprachen in den Neunzigerjahren selbst von einer Linken, die auf dem linken Auge blind sei. Was meinten Sie mit dieser These?
Dass man schon damals alle empirisch störenden Elemente auszuschließen und beiseitezudrängen versucht hat, um die eigene Vorstellung von Sozialismus weiterverfolgen oder wenigstens am Leben erhalten zu können. Und ich glaube, dass es auf diesem Weg auch zu dieser starken maoistischen Adaption gekommen ist. Denn Maoismus bedeutete zunächst einmal nichts anderes, als zu glauben, es gäbe einen kommunistischen Ausweg aus dem Dilemma, in das die Sowjetunion mit dem Stalinismus geraten war.
"Der chinesische Weg"?
Genau. Aber man hatte erstens wenig Ahnung über das, was sich in China wirklich abspielte. Zum Zweiten war die Idee des Maoismus auf gewisse Weise, gerade wegen ihrer großen räumlichen und kulturellen Distanz zu China, faszinierend. Man verstand die Sprache nicht, man konnte dieses System überhaupt nicht dechiffrieren, und Zeitungsberichte über China hat man kaum verfolgt.
Man hätte sie wohl auch nicht lesen wollen, oder?
Man ignorierte jedenfalls die Zeitungsberichte, in denen es hieß, dass die Kulturrevolution, die ja bereits im Sommer 1966 begonnen hatte, unermesslich viele Opfer gekostet habe. Man stellte sich einfach blind, um an seinem Sozialismusmodell festhalten zu können.
Es muss sich um eine religiös inspirierte Verblendung gehandelt haben.
Zumindest ging es um eine Form der Identitätssuche. Und die erste Gruppe, die sich auf diesen Weg begeben hat, war die Kommune 1. Die Kommunarden verstanden sich ja selbst als Rotgardisten. Einzelne sind schon vor der Gründung der Kommune 1 nach Ostberlin gefahren und haben dort Maobibeln in der chinesischen Botschaft abgeholt. Später bezeichneten sie sich auch als Maoisten. Das haben sie nicht von ungefähr getan, denn die ganze Idee ihrer Kommune hatte es in China mit der Volkskommune bereits Ende der Fünfzigerjahre gegeben. Dass die Kommune 1 als antiautoritär wahrgenommen wurde, war insofern ein großer Trugschluss: Diese antiautoritäre Konfiguration war in Wirklichkeit mit einer staatlich-affirmativen prokommunistischen Identifikation unterfüttert. Die Idee der Kommune bezog sich nicht etwa auf die Pariser Kommune, wie sie Karl Marx beschrieben hat und viele als richtungweisend verstanden haben. Bemerkenswert ist die Doppelbödigkeit, die dem soziokulturellen Impetus der Achtundsechziger und der antiautoritären Bewegung anhaftet, schon von Anfang an.
Apropos Doppelbödigkeit: Können Sie den Thesen Ihres Historikerkollegen Götz Aly etwas abgewinnen, nach denen unser Land nicht wegen, sondern trotz Achtundsechzig besser geworden ist?
Nein. Seine Thesen sind im Kern unzutreffend. Ich teile ihren Tenor jedenfalls nicht.
Warum nicht?
Weil er nicht plausibel machen kann, wie der totalitäre Aktivismus von der NS-Generation auf die ihrer Kinder übertragen worden ist.
Sie, der Chronist dieser Zeit, haben sich einmal als "Tangential-Achtundsechziger" bezeichnet. Und das bedeutet was?
Dass ich mit meinen Erinnerungen nur für einen Teil stehen und nicht das Ganze abdecken kann. Aber ich bin nach wie vor der Ansicht, dass die Achtundsechzigerbewegung die Bundesrepublik in einem weitaus positiveren Sinne gefördert hat als in einem negativen. Nach einem Jahrzehnt kehrten die aus der APO und der Studentenbewegung hervorgegangenen Kräfte schließlich ins parlamentarische System zurück und beteiligten sich konstruktiv an einer Veränderung der politischen Wirklichkeiten.
Welche Momente des Positiven haben Sie denn dabei im Sinn?
Auf der soziokulturellen Ebene ist vor allem der gesellschaftliche Wandel bedeutend, den Achtundsechzig über die Jugendkulturen erzeugt hat. Nehmen sie als Beispiel die Wohngemeinschaften, die sich zu Hunderttausenden in den Siebzigerjahren gebildet haben. Ohne diesen Wandel wäre dieses Land - zumindest von seiner gefühlten Temperatur her - dem viel näher, was die DDR 1989 hinterlassen hat. Die DDR war ja im Vergleich zur Bundesrepublik ein deutscher Staat minus 68. Und die Bundesrepublik hat diese Vorteile nicht zuletzt deshalb zur Geltung bringen können, weil das durch das Potenzial der Achtundsechziger maßgeblich befördert wurde.
Müsste es nicht heißen: weil die Freiheitsräume längst existierten?
Nein, diese Freiheitsräume mussten ja zu einem nicht unerheblichen Teil erkämpft werden.
Immerhin konnte man offen um sie kämpfen.
Das würde ich nie bestreiten. Man ist dabei aber auf erheblichen Widerspruch gestoßen. Es ist vom politischen System her nicht einfach geschenkt worden. Es bedurfte einer dauerhaften Auseinandersetzung, die auch die Züge eines Kulturkampfs angenommen hat. Auch in diesem Jahr ist das zu sehen: Vierzig Jahre 68 ist nach wie vor unglaublich polarisierend.
Vierzig Jahre nach der Hochzeit maoistischer Glückspropaganda im Westen fordert ein Autor wie Hennig Mankell in seinem neuen Buch offen einen Maoismus mit menschlichem Antlitz, um die Welt vor ungehemmtem Kapitalismus zu schützen.
Nun, es wird wohl immer wieder Menschen geben, die zu Lenin oder zu Mao und zu einer neuen Ausformulierung des kommunistischen Konzepts zurückwollen. Die Frage aber bleibt: Warum? Und: Wie soll das eigentlich gehen? Wir haben, ökonomisch betrachtet, eine eindimensionale Welt vor Augen. Es ist wirklich bemerkenswert, dass der von Herbert Marcuse 1964 beschriebene "Eindimensionale Mensch" inzwischen Wirklichkeit geworden ist. Wenn man nun für eine vom Sozialismus und Kommunismus inspirierte große politische Alternative antritt, dann muss man auch eine ökonomische formulieren können. Wenn man das aber nicht kann, dann sollte man auf einen solchen Entwurf verzichten. Vom Sozialismus wie vom Kommunismus sind nur Hülsen übrig geblieben. Worthülsen, die politisch offenbar von niemandem mehr gefüllt werden können.
Eine möglicherweise schwer zu akzeptierende Tatsache.
Aber man muss sie akzeptieren. Das 20. Jahrhundert ist vorüber. Der Kommunismus des 20. Jahrhunderts hat mehr Opfer gekostet als der Nationalsozialismus. Das ist ein Sachverhalt, dem sich vor allem die Linke stellen muss.
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