Wohnungsverkäufe: Die Angst vor dem Auszug

Das Gebiet um den Mariannenplatz in Kreuzberg zählt zu den ärmsten Berlins. Dort will die Wohnungsbaugesellschaft Mitte tausend Wohnungen verkaufen.

Allen Sushibars und Szeneclubs zum Trotz: In Kreuzberg gibt es Orte, wo man in Anzug und Krawatte auffällt. Etwa in den Innenhöfen der Wohnblöcke um den Mariannenplatz. Wenn dort wiederholt Gruppen von "Schlipsträgern" über den matschigen Rasen stapfen, interessiert besprühte Wände betrachten, den Spielplatz fotografieren - dann, folgerten die Bewohner, verheißt das nichts Gutes.

"Wir können eins und eins zusammenzählen", sagt Gisela Hellwig. Seit fast 30 Jahren arbeitet sie im Mieterrat Block 100. In den 1970er-Jahren wurde das Gebiet südlich des Mariannenplatzes modernisiert. Die Altbauten mit ihren verwinkelten Höfen fielen dem Bagger zum Opfer, an ihrer Stelle wuchsen funktionale Neubauten. 1.600 Wohnungen verteilen sich auf die drei Häuserblöcke 77, 97 und 100, gruppiert jeweils um einen gemeinsamen Hof. Heute gehören die Wohnungen der Bewoge, einer Tochterfirma der landeseigenen Wohnungsbaugenossenschaft Mitte (WBM). Doch zumindest ein Teil davon wird verkauft. Oder ist es schon.

Im August hatte die WBM erklärt, dass Sie bis Ende des Jahres noch 3.000 Wohnungen verkaufen wird. Der Senat hat das bereits im Vorjahr genehmigt, weil die WBM nach Managementfehlern und riskanten Spekulationen in finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Die Pakete mit den Angeboten gingen zunächst an die anderen städtischen Wohnungsbaugenossenschaften. Sollten die den Kaufpreis nicht aufbringen, schließt die WBM auch einen Verkauf an private Investoren nicht aus.

1.100 der Wohnungen liegen in Kreuzberg, gab die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung auf Anfrage des grünen Abgeordneten Andreas Otto im September bekannt. Auch Häuser am Mariannenplatz sind im Angebot, bestätigt Petra Roland, Sprecherin der Senatsverwaltung. Nach der Zahl der Wohnungen müsse man aber die WBM fragen.

Doch dort gibt man sich zugeknöpft: "Wir sind gerade in der absoluten Hochphase des Verkaufs", sagt WBM-Sprecherin Steffi Pianka. "Deshalb kann ich da absolut nichts dazu sagen." Die Wohnungen würden in kleinen Paketen verkauft. Ein Teil der Geschäfte sei bereits abgeschlossen, die Ergebnisse seien "sehr positiv, für uns, für alle". Über einen anderen Teil werde noch verhandelt. In dieser Woche schon könnte der Verkauf abgewickelt sein, so Pianka.

Gisela Hellwig wohnt in der Waldemarstraße, Block 100, sechster Stock. Im Treppenhaus sind die Glasscheiben teils durch Blechplatten ersetzt worden, die Wände haben lange keine Farbe mehr gesehen, dunkelrotes Linoleum quietscht unter den Schuhen. "Das Haus hier ist in einem schlimmen Zustand", sagt Hellwig. "Aber viele der umliegenden Häuser sehen noch schlimmer aus."

Niedriges Einkommen

Im Sozialstrukturatlas 2005 liegt das Gebiet um den Mariannenplatz auf dem vorletzten Platz, an wenigen Orten in Berlin ist das Durchschnittseinkommen geringer, die Arbeitslosenquote höher. In den Neubauten, die fast 90 Prozent der drei Blöcke ausmachen, potenzieren sich diese Probleme: Fast 80 Prozent der Mieter leben von staatlichen Transferleistungen, die Familien - darunter viele türkische - drängen sich auf engstem Raum in den kleinen Wohnungen.

Die Mieten aber sind längst nicht mehr so niedrig wie noch vor zwanzig Jahren. Nach der Fördersystematik des sozialen Wohnungsbaus steigen die Mieten jährlich, viele der Neubauten sind daher inzwischen teurer als benachbarte Altbauten. Um die 4,80 Euro Kaltmiete zahlen die Mieter im Block 100 pro Quadratmeter. Für viele Empfänger von Hartz IV ist das zu viel: Seit der Einführung des Arbeitslosengelds II vor zwei Jahren mussten viele langjährige Mieter ausziehen. Wer bleibt, zahlt das Zuviel an Miete aus eigener Tasche. "Dass das mit Hartz IV kaum möglich ist, kann man sich ja denken", sagt Hellwig. Sie fürchtet, dass die Mieten nach einem Verkauf noch einmal gewaltig steigen: Ende des Jahres läuft im Block 100 die Förderung als sozialer Wohnungsbau aus, für die anderen beiden Blöcken könnte der Käufer die restliche Fördersumme abbezahlen und sie damit aus dem sozialen Wohnungsbau herauslösen. Dann wäre laut Mietspiegel eine Kaltmiete von über 6 Euro erlaubt. "Das kann sich keiner von uns leisten", sagt Hellwig.

Deshalb fordert der Mieterrat für den Fall eines Verkaufs Ergänzungen zum Mietvertrag, die die Mieter schützen sollen: vor Kündigung, Mieterhöhung, vor Modernisierungen, die sie nicht wollen. Wie es sie beim Verkauf der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft GSW vor drei Jahren gab.

Aber um etwas fordern zu können, benötigen die Mieter Informationen. Wie viele und welche Wohnungen sind betroffen? Und wann werden sie vom neuen Eigentümer übernommen? Doch die Wohnungsbaugesellschaft und die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung weichen aus. Es sei eine "politische Entscheidung", welche Blöcke verkauft würden, ließ die WBM verlauten, als das Quartiersmanagement Mariannenplatz nachfragte - und verwies auf die Senatsverwaltung. Welche Wohnungen die Gesellschaft verkaufe, darauf habe man keinen Einfluss, entgegnet Petra Roland, Sprecherin der Stadtentwicklungsverwaltung.

Besondere Regelungen zum Schutz der Mieter seien derzeit nicht geplant, sagt Roland weiter. Wie bei allen Verkäufen landeseigener Wohnungen gelten jedoch die acht "Grundsätze zur Wohnraumprivatisierung", die der Senat im Jahr 2000 beschlossen hat. Danach hätten die Mieter ein Vorkaufsrecht für ihre Wohnungen. Das könnten sich die meisten Bewohner der Blöcke 97, 99 und 100 zwar kaum leisten, aber sie bekamen nicht einmal ein Angebot. Daneben sichert das Achtpunkteprogramm den Mietern einen erweiterten Kündigungsschutz zu. "Mieterhöhungen lassen sich natürlich nicht ausschließen", sagt Roland. "Innerhalb des Mietspiegels gibt es da schon noch Spielraum."

"Das ist eine riesige Schweinerei, was die WBM mit uns macht", sagt Dirk Szuszies, der seit sieben Jahren in der Naunynstraße wohnt. Er meint keineswegs nur den Verkauf. "Die WBM erreicht man nie, wenn es Probleme gibt", sagt Szuszies. Wenn zum Beispiel Wasser aus einem kaputten Rohr fließt, rufen die Betroffenen bei einem Call-Center an oder sprechen ihr Anliegen auf einen Anrufbeantworter. Dann melden sich die Ansprechpartner. Oder auch nicht, wie Szuszies erzählt. Mehrere Monate habe er gewartet, bis das kaputte Rohr über seiner Wohnung repariert worden sei.

Hohe Betriebskosten

"Der Verkauf der Blöcke ist sicher ein Problem", sagt Szuszies. "Aber bestimmt nicht das einzige." Im August sei die Miete in seinem Haus um fast 20 Prozent erhöht worden. "Die WBM", sagt Szuszies, "verschickt die Benachrichtigungen über Mieterhöhung mit einigen Wochen Abstand, damit die Mieter sich nicht absprechen können, wie sie darauf reagieren sollen." Zudem sind die Betriebskosten so hoch, dass nun Mieter aus allen Blöcken gemeinsam gegen die letzte Betriebskostenabrechnung vor Gericht ziehen. Allein im Block 100 klagen 120 Mieter, 20.000 Euro insgesamt wollen sie zurückhaben.

Vor allem aber ist da der Zustand der Häuser: Gerümpel türmt sich in den Fluren, viele Haustüren lassen sich nicht mehr schließen. In den weitläufigen Höfen wuchert Gestrüpp, Zigarettenstummel liegen im Sand neben den Resten eines Spielplatzes. "Die WBM steckt hier seit langem keinen Pfennig mehr rein, weil sie genau weiß, dass sie die Häuser sowieso bald verkauft", sagt Szuszies. Wer von seinem Recht auf Mietminderung Gebrauch mache, bekomme sofort eine Klage ins Haus. Dass in manchen Häusern 30 Prozent der Wohnungen leer stehen, sei der WBM gerade recht, vermutet er. "Das lässt sich doch besser verkaufen."

Nachtrauern werden die Mieter der WBM sicherlich nicht. "Aber so ein Verkauf ist natürlich ein zweischneidiges Schwert", sagt Mieter Szuszies. "Wenn zu dem Zustand der Häuser und den Mieterhöhungen noch Sanierungen hinzukommen, können wir nur noch ausziehen."

"Das Verhältnis der Mieter zur WBM ist extrem gestört", sagt Sevgi Kayhan vom Stadtteilmanagement Kreuzberg. Dessen Büro liegt in einem der wenigen Altbauten, die zum Block 77 gehören. Vor drei Jahren wurde das Stadtteilmanagement als Pilotprojekt gegründet, finanziert aus dem Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt". Es sollte rund um den Mariannenplatz "wohnumfeldverbessernde Maßnahmen" durchführen, in enger Zusammenarbeit mit der IHZ, einer Tochterfirma der WBM, die damals die drei Blöcke verwaltete. Doch die zog ihren Teil der Finanzierung zurück.Mit der WBM haben die Stadtteilmanager heute kaum noch Kontakt.

Für den 25. Oktober lädt das Stadtteilmanagement zu einer Mieterversammlung, zusammen mit grünen Abgeordneten des Bezirksparlaments und des Abgeordnetenhauses. Vielleicht haben die Organisatoren bis dahin genug Informationen zusammengetragen, um die dringendsten Fragen der Mieter beantworten zu können. Wenn nicht, werden sie wohl erst dann wissen, was auf sie zukommt, wenn sie den Brief der WBM erhalten, der sie über den Verkauf der Wohnungen informiert. "Die Mieter haben Angst", sagt Kayhan. "Die Leute wissen nicht, was auf sie zukommt."

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.