Wohnungsnot auf Sylt: Verwaisende Insel
Schleswig-Holstein lässt in Keitum ein Reetdachhaus ungenutzt, während immer mehr Sylter gehen. Mit den oft mies bezahlten Jobs ist Wohnen auf der Insel unbezahlbar.
HAMBURG taz | Das Hufeisen mit der Hausnummer 38 hängt noch neben der Eingangstür – richtig herum, damit das Glück nicht rausfällt. Aber dem Garten ist anzusehen, dass sich hier lange niemand gekümmert hat. Die Hecke wächst struppig über den Lattenzaun, der Rasen ist schon ganz platt, so lang hat hier keiner gemäht, und der Weg zur weißen Haustür mit Rundbogen wuchert zu.
Seit im Mai 2011 die Polizeiwache in Keitum auf Sylt geschlossen wurde und die beiden dort lebenden Polizisten das Haus und die Insel verlassen haben, lässt das Land Schleswig-Holstein das Reetdachhaus ungenutzt. „Das kann man sich angesichts der großen Wohnungsnot auf der Insel eigentlich nicht leisten“, sagt Petra Reiber, Bürgermeisterin der Gemeinde Sylt. Bei gut 2.000 Wohnungssuchenden auf Sylt sähe das nicht gut aus.
Nun lässt das Land nicht haufenweise Objekte leer stehen, aber auch am Einzelfall in Keitum zeigt sich, wie lax mit dem Thema Wohnraum auf der Insel umgegangen wird. „Normalverdiener können sich auf der Insel kaum mehr eine Wohnung leisten“, sagt Susanne Uhl, Geschäftsführerin des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Schleswig-Holstein Nordwest – das Ergebnis sind laut Bundesanstalt für Arbeit in Flensburg rund 3.700 Pendler, die auf Deutschlands reichster Insel arbeiten und auf dem strukturschwachen Festland wohnen. Denn neben dem knappen Wohnraum sind auch die Löhne knapp bemessen.
Der DGB Nord hat im August rund 400 Pendler befragt und ein Viertel von ihnen verdient weniger als 8,50 Euro pro Stunde und liegt damit unter der Mindestlohngrenze. Die meisten machen fast doppelt so viele Überstunden in der Woche wie der Bundesschnitt. „Damit zahlen die Arbeitgeber auf Sylt sogar noch schlechter als im bundesweiten Durchschnitt“, sagt Uhl. Darum gehen die Sylter aufs Festland, kommen nur zum Arbeiten her. Allein in Keitum gibt es 931 Sylter und 667 Zweitwohnsitze – und die stehen einen großen Teil des Jahres leer.
Aber statt politisch einzugreifen und beispielsweise eine sogenannte Zweckentfremdungsverordnung zu erlassen, die verhindert, dass immer mehr Wohnungen in Ferienwohnungen umgewandelt werden, geschehe nichts. „Viele ehemalige Sylter wollen gar nicht mehr zurück, selbst wenn sie es sich leisten könnten“, sagt Uhl. Denn die Insel verwaist zusehends und vor allem im Herbst und Winter sei es hier immer unwirtlicher und einsamer. Da stelle sich die Bürgermeisterin zurecht die Frage, ob die Insel noch zu retten sei.
Man wolle natürlich, dass die Menschen, die auf der Insel arbeiten, auch hier wohnen können, sagt Bürgermeisterin Reiber, lehnt aber eine Zweckentfremdungsverordnung ab. „Es kommt auf einer Urlaubsinsel nicht gut an, wenn Kontrolleure durch die Gegend laufen und prüfen, ob in den Wohnungen nun Feriengäste schlafen oder nicht“, sagt Reiber. Es sei zwar ein Problem, dass viele hier eine Zweitwohnung kaufen und die dann nicht vermieten, aber sie setze darauf, dass die Gemeinde irgendwann Flächen vom Bund kaufen könne, um dann dort Wohnungen zu bauen. Das kann aber dauern.
Eigentlich wollte Schleswig- Holstein das leere Haus in Keitum meistbietend verkaufen. Aber dann hat man sich im vergangenen Sommer mit der Kommune darauf geeinigt, stattdessen zu prüfen, ob das Haus „für den ursprünglichen Zweck entbehrlich“ sei, sagt Ove Rahlf vom Innenministerium Schleswig-Holstein. Sie prüfen noch und leisten sich derweil Leerstandsluxus, wie sonst die Neu-Sylter mit den Ferienhäusern am Meer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles