: Wo ist dein Bruder Abel
Der erste Mord: Kain tötet Abel. Die Frage nach den Ursachen der Gewalt stellt sich immer noch.Fünf Thesen zur Gewalt
Gewalt gehört zum Menschen
„Der Herr schaute auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer schaute er nicht. Da überlief es Kain ganz heiß und sein Blick senkte sich.“ Kain, der erstgeborene Sohn Adam und Evas, erschlägt seinen Bruder Abel aus Eifersucht.
Ein Blick in die Gegenwart zeigt den zeitlosen Charakter von Gewalt. 2016 hat das Bundeskriminalamt in Deutschland 2.418 Mordfälle erfasst. Das wirft die Frage auf, ob Gewalt zur menschlichen Existenz gehört. Der biologische Erklärungsansatz von Gewalt setzt Aggression mit einem tierischen Kampfinstinkt gleich. Im Vordergrund steht dabei die Sicherung der Nahrung oder die Verteidigung vor natürlichen Feinden. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz charakterisiert Aggression im menschlichen Verhalten als evolutionären Fitness-Vorteil.
„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“, schrieb Sigmund Freud. Der Begründer der Psychoanalyse hält Aggression für eine der beiden wesentlichen Antriebskräfte menschlichen Handelns. Als Libido bezeichnet Freud die Energie des Sexual- oder Lebenstriebes. Ihr gegenüber steht die „Destrudo“, eine Energie der Aggression und Zerstörung.
Ist Aggression ein angeborener Trieb, sogar eine Voraussetzung für unser Bestehen in der Gesellschaft? Verhaltensforschung und Psychoanalyse haben sehr unterschiedliche Vorstellungen zu den Ursachen von Gewalt. Aber beide gehen davon aus, dass sie ein Charakteristikum des Menschen ist. Am Anfang war der Brudermord. Eser Aktay
Gewalt ist Männersache
Warum prügelte Kain seinen Bruder Abel brutal zu Tode? Noch mehrere tausend Jahre später versperrt uns die Gewaltforschung den Blick auf eine simple Antwort. Klar scheint: Gewalt ist männlich. Der Neuropsychologe Thomas Elbert ließ gar wissen, Männer empfänden Spaß beim Ausüben von Gewalt.
Der Mörder ist immer der Gärtner – nicht die Gärtnerin. Ein Blick in Statistiken und Gefängnisse befeuert diese These. Im März 2016 befanden sich 15-mal mehr Männer als Frauen im deutschen Strafvollzug. Laut einer Statistik des FBI wird nur jeder neunte Mord in den USA von einer Frau begangen. Faktisch haben die allermeisten Serienkiller, Vergewaltiger, Terroristen und Milizenführer dieser Welt ein Y-Chromosom gemein.
Unbestritten ist, dass Frauen überschüssige Botenstoffe des Nervensystems besser abbauen. Sie reagieren im Affekt weniger impulsiv als Männer. Wer maskuline Aggression ergründen möchte, führt oft Testosteron ins Feld. Studien kamen allerdings zum Ergebnis, dass erhöhte Werte des Hormons erst als Folge von Aggression entstehen.
Sind Frauen also friedliebende Wesen? Sie werden jedenfalls auf eine Art und Weise gewalttätig, die in der Verbrechensstatistik unsichtbar bleibt. In einer Umfrage der Evangelischen Kirche gab knapp die Hälfte der männlichen Befragten an, im vergangenen Jahr Opfer weiblicher Gewalt geworden zu sein. Dabei handelte es sich um Beschimpfungen, Kontrollzwang und psychische Repression.
Im Alten Testament spielt weibliche Gewalt keine Rolle. Adam und Eva hatten keine Töchter. Simon Wörz
Ordnung durch Gewalt
Eine gewaltfreie Gesellschaft ist wünschenswert, aber kann es eine Gesellschaft ganz ohne Gewalt geben? Der englische Staatstheoretiker Thomas Hobbes stellte unter dem Eindruck eines Bürgerkriegs zwischen Krone und Parlament in seinem Werk „Leviathan“ von 1651 die These auf, dass in einer Welt ohne Herrschaft jeder gegen jeden ums Überleben kämpfen muss. Um den „Krieg aller gegen alle“ zu stoppen, geben die Menschen in einem „Gesellschaftsvertrag“ ihre Souveränität an eine absolutistische Macht ab. Im Gegenzug werden sie vom Herrscher beschützt.
Im Bibeltext sorgt Gott als religiöse Instanz für Ordnung: Er bestraft Kain für den Mord an Abel mit nie endender Wanderschaft und dem Verlust der Heimat. Gleichzeitig hält Gott aber auch seine schützende Hand über den Bruder Abels: Was Kain angetan wird, soll siebenfach gerächt werden. Genauso verliert ein Mörder im modernen Rechtsstaat trotz Sanktion nie seine Bürgerrechte, wie etwa das Recht auf einen gerechten Prozess.
In Deutschland hat der Staat das Gewaltmonopol inne. „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ und wird an demokratische gewählte Vertreter abgegeben, welche sich wiederum für ihre Entscheidungen vor Volk und Institutionen verantworten müssen. Zudem kontrolliert die Verfassung den Einsatz von Gewalt durch das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen.
Glaubt man Hobbes, würde sich ohne Gewaltmonopol niemand mehr an Regeln halten. Jede Streitigkeit könnte mit Totschlag enden. Eine gewaltfreie Gesellschaft ist wünschenswert, ihre Existenz aber eher unwahrscheinlich. Paulina Seelmann
Gesellschaft macht Gewalt
Als Kain und Abel ihre Erträge vom Feld als Opfer darbieten, zeigt Gott Kain gegenüber keinerlei Wertschätzung. Da lockt Kain seinen Bruder aus Neid auf das Feld und erschlägt ihn.
Individuelles Fehlverhalten und mangelnde Frömmigkeit halten die Autoren der Bibel für den Ursprung der Gewalt. Ihre soziale Ursache, die mangelnde Wertschätzung Kains durch Gott, wird erwähnt, aber nicht als entscheidendes Motiv betrachtet. Gewalt tritt jedoch in der Gesellschaft meist dort auf, wo gesellschaftliche Anerkennung fehlt und Bedürfnisse nach Wohnraum, Konsum und sozialer Sicherheit nicht erfüllt werden.
Konzentriert sich Gewalt also in sogenannten „Problemvierteln“, weil dort besonders „böse“ Menschen wohnen? Bei der Frage nach dem Ursprung von Gewalt stoßen individuelle Erklärungsansätze an ihre Grenzen. Viel mehr scheinen es soziale Umstände zu sein, die Gewalt fördern. Wo das Einkommen gering und der Frust groß ist, sinkt die Hemmschwelle und steigt die Gewöhnung an Gewalt.
Dabei spielt das Gewaltmonopol des Staates eine zentrale Rolle. Zwar tritt physische Gewalt seltener auf, seit das Recht auf Gewaltausübung exklusiv beim Staat liegt, so übt dieser seine Macht jedoch nicht nur zum Schutz des Menschen aus. Trotz allgemeinen gesellschaftlichen Wohlstands verwehrt der Staat Grundbedürfnisse wie bezahlbaren Wohnraum. Prekäre Jobs, Altersarmut und gekürzte Sozialsicherung stellen die Existenzgrundlage der Menschen in Frage. Diese werden verdrängt und sozial isoliert. Gewalt im sozialen Umfeld ist ein Ergebnis dieses Prozesses.
Wer Gewalt verhindern will, muss nicht den Menschen therapieren, sondern soziale Ungleichheit bekämpfen. Simon Raulf
Religion ist Quelle von Gewalt
In den Medien begegnen uns fanatische Gläubige, in denen viel Hass ist, und die davon überzeugt sind, im Sinn oder sogar im Namen ihres Gottes zu handeln. Die Frage, ob Religion eine Quelle von Gewalt ist, ist nicht neu. Sie wird nicht erst seit dem 11. September gestellt.
Im Koran gibt es einige Stellen, die explizit Gewaltausübung legitimieren. Etwa die 9. Sure des Koran: „Wenn die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Polytheisten, wo immer ihr sie findet, greift sie, belagert sie und lauert ihnen auf jedem Weg auf. Wenn sie umkehren, das Gebet verrichten und die Abgabe entrichten, dann lasst sie ihres Weges ziehen: Gott ist voller Vergebung und barmherzig.“
Auch im Alten Testament wird zu Gewalt aufgerufen: „So tötet nun alles, was männlich ist unter den Kindern, und alle Frauen, die nicht mehr Jungfrauen sind; aber alle Mädchen, die unberührt sind, die lasst für euch leben“, heißt es im 4. Buch Mose.
Dennoch darf man nicht den Fehler machen, Gewaltausübung durch Fundamentalisten den Büchern zuzuschreiben, weil Religionen nicht gewalttätig sein können, das kann nur der Mensch! Ein gutes Beispiel ist die Geschichte des ersten Mordes von Kain an Abel.
Jeder hat sein eigenes Verständnis von Religion. In Koran und Bibel kann jeder die Stelle finden, die seine Ideen bestätigt. Das zeigt sich etwa daran, dass es unter Muslimen sowohl sehr radikale, gewalttätige Menschen als auch friedliebende, tolerante Menschen gibt.
Politiker benutzen gewalttätige Auslegungen der Bücher, um junge Männer zum Kämpfen zu motivieren. Sie tun es, um selbst die Macht zu erringen oder zu behalten. So wird der Gewalt durch ihre Rechtfertigung mit der Religion Sinn verliehen.
Religion ist eine Quelle von Gewalt, wenn sie von Menschen benutzt wird, die versuchen mit ihrer Hilfe ihre Ziele zu erreichen. Tammam Daher
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen