: Wo ist Yousif?
In keinem Krieg Afrikas sind jüngst so viele Menschen verschwunden, wie in Sudan. Abertausende Frauen suchen online nach ihren vermissten Ehemännern. Kareema Adama ist eine von ihnen
Aus Kampala Simone Schlindwein (Text und Fotos)
Sobald Kareema Adama auf ihr Handy blickt, rollen Tränen über ihre Wangen. Die Sudanesin spielt ein selbst produziertes Video ab: Fotos ihres Mannes als Kollage, Hochzeitsbilder, mit trauriger Musik unterlegt. Sie hat selbst gedichtete Verse mit ihrer Stimme aufgenommen, sie klingen wie ein Gebet: „Wir haben überall nach dir gefragt, selbst die Vögel am Himmel haben wir nach dir suchen lassen“, so Adamas zarte Stimme. „Wir waren an Hunderten Orten – doch es gibt keine Nachricht von dir.“
Die 26-jährige Sudanesin weint noch immer, als sie das Handy weglegt. Mit ihrem dunkelgrünen Kopftuch trocknet sie ihre Tränen. Sie sitzt auf einer schwarzen Ledercouch im Konferenzsaal der sudanesischen Nichtregierungsorganisation Darfur Netzwerk für Menschenrechte (DNHR) in Ugandas Hauptstadt Kampala – rund 2.500 Kilometer von ihrer Heimatstadt El Geneina entfernt. Dort, in der Bezirkshauptstadt von West-Darfur im Bürgerkriegsland Sudan, hat sie vor fast zwei Jahren ihren Ehemann zuletzt gesehen: „Jeden Tag verschicke ich diese Videobotschaft über zahlreiche Chatgruppen“, schluchzt Adama: „Ich kann und will die Hoffnung nicht aufgeben, ihn wiederzufinden.“
Wie vielen Sudanes:innen ist es Adama gelungen, der Gewalt in ihrem Heimatland zu entkommen und in Uganda Schutz zu finden. Allein mit ihren zwei Kindern sucht sie noch immer nach ihrem vermissten Mann: Yousif Hafize, 32 Jahre alt, Restaurantbesitzer aus El Geneina. „Bei uns war es Liebe auf den ersten Blick“, berichtet Adama von ihrem Kennenlernen 2018. Als Studentin habe sie täglich in seinem Restaurant unweit der Universität gegessen. Sie verliebten sich, heirateten 2019 und bekamen ihr erstes Kind. „Bevor der Krieg ausbrach, waren wir eine sehr glückliche Familie.“
Adama war mit dem zweiten Kind schwanger, als der Krieg, der im April 2023 in Sudans Hauptstadt Khartum begann, auch in El Geneina ankam. In jener Nacht zum 9. Juni 2023 hatten die Milizionäre der RSF (Schnelle Eingreiftruppe), die gegen die Regierungsarmee kämpfen und mittlerweile weite Teile der Region Darfur erobert haben, ihr Haus überfallen, ihren Mann niedergeprügelt und sie selbst an einen Baum im Garten gefesselt. Am nächsten Tag brachte sie ihren schwer verletzten Mann ins Krankenhaus. Dort lag er halb bewusstlos, die Wunde am Kopf verbunden. Er hatte sie angewiesen, zu fliehen, ins Nachbarland Tschad, dessen Grenze nur 30 Kilometer von El Geneina entfernt liegt. Dort habe sie doch Verwandte, wo sie unterkommen könne, hatte er geflüstert. Er selbst war zu schwach, um aufzustehen.
Sie ließ ihn zurück. Nur wenige Tage später, Adama war mit ihrer damals 3-jährigen Tochter bereits in Richtung Tschad auf der Flucht, stürmte die RSF-Miliz die Innenstadt, wo auch das Klinikum liegt. Die Kämpfer töteten am 14. Juni den Provinzgouverneur und kulturellen Führer der Masalit-Ethnie, der auch Adama und ihr Ehemann angehören; sie begingen Massaker an der Masalit-Bevölkerung. Ob ihr Ehemann überlebt hat, das weiß Adama nicht. Klar ist nur, so sagt sie: „Sein Handy ist seitdem aus.“
In keinem Krieg Afrikas gibt es so viele vermisste Menschen wie in Sudan. Es ist bislang ein komplett unterbelichtetes Phänomen, dabei zählt das „erzwungene Verschwindenlassen“, wie es völkerrechtlich genannt wird, in die Kategorie der schwersten Menschenrechtsverletzungen weltweit. Das 2002 in Kraft getretene Rom-Statut, auf dem die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag aufbaut, versteht darunter „die Festnahme, den Entzug der Freiheit oder die Entführung von Personen“. Der IStGH hat in dieser Hinsicht bereits Ermittlungen aufgenommen und hat Menschenrechtsorganisationen und Betroffene aufgerufen, sich beim IStGH zu melden, um Beweise für eine Anklage zusammenzutragen.
Zahlreiche Menschenrechtsorganisationen dokumentieren seit Kriegsbeginn 2023 Fälle, in welchen Menschen einfach spurlos verschwinden. Systematisch aufgenommene Statistiken gibt es jedoch nicht. Jede NGO veröffentlicht ihre eigenen Zahlen, die stark variieren. Die Sudanese Group for Defending Rights and Freedoms berichtete im März von rund 50.000 Fällen, vor allem in den von der RSF kontrollierten Gebieten Darfurs. Der Selbsthilfeverband Sudanese Group for Victims of Enforced Disappearance meldete im April 1.140 dokumentierte Fälle, darunter auch Frauen und Kinder. Das Internationale Rote Kreuz (ICRC), das historisch und völkerrechtlich für vermisste Personen, auch Soldaten, weltweit zuständig ist, schlägt Alarm: Die Zahl der Verschwundenen in Afrikas Kriegen sei seit 2019 um 75 Prozent angestiegen. Für Sudan wurden laut Angaben vom April knapp 8.000 Fälle dokumentiert. Zudem seien rund 45.000 Telefongespräche mit Familien geführt worden, die nach Angehörigen suchen, so Daniel O’Malley, Sudan-Chef des ICRC. Er betont ausdrücklich: „Das ist nur die Spitze des Eisbergs.“
Die Dunkelziffer ist deutlich höher. Der Grund: Nicht alle Familien, die mitunter ins Ausland geflüchtet sind, lassen die Fälle offiziell registrieren. Auch Adama hat bislang nicht so recht gewusst, wohin sie sich wenden soll, berichtet sie: „Ich habe mit dem Roten Kreuz Kontakt aufgenommen, sie haben den Namen meines Mannes auf eine Liste geschrieben.“ Doch weiter sei seitdem nichts geschehen. Sie suche nun nach einem anderen Weg, gezielt nach ihrem Mann suchen zu lassen, sagt sie.
Deswegen ist sie an diesem Aprilvormittag ins Büro von DNHR in Kampala gekommen, eine NGO, die Fälle von Vermissten registriert und mit den Datenbanken des Roten Kreuz in Sudan und dem IStGH in Den Haag abgleicht. DNHR-Direktor Mohammed Hassan nimmt sich für sie Zeit. Er hat Taschentücher bereitgelegt, ihr ein Glas Wasser hingestellt. Immer wieder weint Adama, während sie erzählt. Und auch Hassan laufen Tränen über die Wangen. Er ist selbst Überlebender des Darfur-Krieges von 2000 bis 2003 und weiß aus Erfahrung: Es ist für die Angehörigen nicht leicht, die Geschehnisse im Detail zu rekapitulieren. Doch für seine Datenbank, in welcher er über 8.000 Fälle von Menschenrechtsverbrechen eingetragen hat, darunter fast 1.000 Fälle von erzwungenem Verschwindenlassen, sei es wichtig, Zeit, Ort und Umstände zu protokollieren.
„In Sudan gibt es eine lange Tradition, Menschen einfach verschwinden zu lassen“, erklärt Hassan. „Beide Kriegsparteien nutzen dies als Kriegswaffe“, sagt er. Es gebe kein einheitliches Bild, warum dies geschehe. In einigen Fällen, die er recherchiert habe, seien die Verschleppten als Arbeitssklaven in den Militärlagern eingespannt worden. Darunter seien zunehmend Frauen und Mädchen, die auch als Sexsklavinnen missbraucht würden. Die RSF sei berüchtigt dafür, junge Männer oder gar Kinder als Kämpfer zu rekrutieren, so Hassan. In einigen Fällen fordere die RSF-Miliz von den Familien Lösegeld für die Geisel, um Profit zu machen. Doch in viel größerem Stil, so befürchtet Hassan, „enden die Verschleppten entweder in Massengräbern oder in einer der zahlreichen Haftanstalten“.
Auch Adama hat diese Gefängnisse gesehen, berichtet sie. Nach ihrer Flucht aus El Geneina im Juni 2023 hat sie zunächst zwei Monate im Flüchtlingslager am Rande der Stadt Adré in Tschad entlang der Grenze auf ihren Mann gewartet, vergeblich. Letztlich entschied sie, ihre Tochter bei ihrer Tante im Lager zu lassen und den riskanten Weg nach El Geneina zurückzukehren, um nach ihrem Mann zu suchen. „Ich war im neunten Monat schwanger, aber ich wollte nicht alleine sein mit zwei Kindern, deswegen riskierte ich alles“, berichtet Adama von ihrer Rückkehr ins Kriegsgebiet. „Die RSF hatte in einer Schule am Stadtrand ein riesiges Gefangenenlager eingerichtet“, so Adama. „Sie drohten, mich ebenfalls festzunehmen, wenn ich weiter nach ihm frage“, erzählt sie.
Hochschwanger hatte sie letztlich keine Wahl. Sie ging zu Fuß die 30 Kilometer zurück nach Tschad, drei Tage lang war sie unterwegs. Letztlich brachte sie dort im August 2023 ihr Baby zur Welt. „Doch in den Lagern im Tschad waren wir Frauen ohne Ehemänner nicht sicher“, erzählt sie. Ständig habe es sexuelle Übergriffe gegen alleinstehende Frauen gegeben, die den Angreifern hilflos ausgesetzt gewesen seien. Wenige Wochen nach der Geburt entschied sie, den rund 2.500 Kilometer langen Weg nach Uganda zu wagen: zunächst zu Fuß, dann mit dem Taxi bis an die Grenze zu Südsudan, und weiter mit dem Bus nach Uganda, wo sie im Januar 2024 eintraf. Heute lebt sie mit ihren beiden Kindern in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Kampala.
Der Krieg in Sudan
Der Krieg in Sudan begann im April 2023 in der Hauptstadt Khartum. Seitdem weitete er sich über das ganze Land aus. Die RSF-Miliz (Schnelle Eingreiftruppe) kämpft gegen die Nationale Armee (SAF) um die Herrschaft. Mittlerweile hat die RSF fast ganz Darfur eingenommen und in der Stadt Nyala ihr Hauptquartier eingerichtet.
Doch die SAF hat zu Beginn des Jahres eine Gegenoffensive gestartet und die RSF im März aus der Hauptstadt verdrängt.
Massaker von El Geneina
Nach heftigen Gefechten mit der Armee in El Geneina, der Hauptstadt des Bezirks West-Darfur, übernahm die RSF die Kontrolle und tötete am 14. Juni 2023 den Gouverneur Khamis Abakar, der als kultureller Vertreter der dort heimischen Masalit-Bevölkerung galt. Es kam zu ethnischen Säuberungen gegen die Masalit durch die RSF, über 1.000 Menschen wurden getötet. Die meisten Einwohner flohen nach Tschad, die Grenze ist nur 30 Kilometer entfernt.
Mittlerweile beherbergt Tschad 770.000 sudanesische Geflüchtete.
Strafverfolgung
Der Internationale Strafgerichtshof IStGH in Den Haag hat 2024 Ermittlungen eingeleitet wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Darfur. Chefermittler Karim Khan hat Opfer sowie Menschenrechtsorganisationen weltweit aufgefordert, Beweise einzusenden: per Online-Formular und E-Mail. Auch das „erzwungene Verschwindenlassen“ steht auf der Liste der Verbrechen.
Die Suche nach ihrem Mann hat sie nie aufgegeben: „Meine Töchter fragen fast jeden Tag nach ihrem Vater“, schluchzt Adama: „Ich habe ihnen versprochen, dass wir nicht aufhören, nach ihm zu suchen“, nickt sie entschlossen. „Ich fühle es in meinem Herzen, er ist immer noch am Leben.“
Adama ist mit diesem Schicksal nicht alleine. Im Flüchtlingslager in Tschad habe sie Tausende Frauen getroffen, denen es so gehe wie ihr, sagt sie und zeigt NGO-Direktor Hassan auf ihrem Handy eine Whatsapp-Gruppe, in welcher im Sekundentakt Nachrichten in arabischen Schriftzeichen einlaufen. Über 3.400 sudanesische Frauen sind darin aktiv, so Adama: „Wir helfen uns gegenseitig bei der Suche.“ Hassan erklärt sich bereit, die Fälle dieser Frauen in seine Datenbank mit aufzunehmen. „Es ist sehr wichtig, um eine Übersicht zu bekommen, wie gravierend das Problem ist“, sagt er.
Die beiden gehen gemeinsam nach nebenan in einen abgedunkelten Raum, in welchem ein TV-Monitor an der Wand hängt. Davor steht ein Tisch mit einem Mikrofon. Sobald Adama den Videoanruf tätigt, sieht man auf dem Bildschirm die Luft im Flüchtlingslager in Tschad in der Hitze flimmern.
Auf Plastikstühlen vor einer weißen Plane sitzen dort drei Frauen, eingehüllt in bodenlange Kleider, die Haare bedeckt mit einem Hidschab. Adama begrüßt sie herzlich in ihrer Sprache der Masalit. Dann bittet sie ihre Mitstreiterinnen, von ihren vermissten Männern zu erzählen.
Die 25-jährige Aziza Ahmad im rosafarbenen Hidschab weint, als sie davon berichtet, wie sie am 14. Juni 2023 ihrem Mann Sherif Hamad auf Wiedersehen gesagt hatte. Er war Taxifahrer und sollte von El Geneina bis an die Grenze nach Tschad fahren. Von dort ist er nie zurückgekehrt. Als die RSF-Milizionäre in jenem Tag den Provinzgouverneur töteten, musste sie – wie Adama – im Chaos mit ihren beiden Kindern Hals über Kopf fliehen. Ein Bekannter ihres Mannes, ebenfalls Taxifahrer, nahm sie mit zur Grenze, wo sie sich gemeinsam mit Verwandten im Flüchtlingslager einquartierte: „Als die Lage sich zu Hause etwas beruhigte, bin ich noch einmal zurückgekehrt“, berichtet sie. Sie weint dabei leise: „Selbst in den Massengräbern am Stadtrand habe ich nach ihm gesucht.“
Mohammed Hassan vom Darfur Netzwerk für Menschenrechte
Marhya Abduladi, die neben ihr sitzt, greift nach ihrer Hand und drückt sie tröstend. Die 27-jährige Mutter einer Tochter hat ähnliches erlebt. Ihr vermisster Ehemann, Abdul Aziz Umar, gab als Lehrer Unterricht, als die RSF-Miliz am 10. Juni 2023 das Viertel von El Geneina stürmte, wo seine Schule lag. „Er wurde von zwei Kugeln getroffen“, sagt sie. Man brachte ihn ins Krankenhaus. Als vier Tage später die Stadt nach der Ermordung des Gouverneurs im Chaos versank, musste sie ihn dort zurücklassen, um sich in Tschad in Sicherheit zu bringen. „Ich habe überall herumtelefoniert – niemand weiß, was aus ihm geworden ist“, berichtet Abduladi.
Da rückt die dritte Frau den Plastikstuhl vor die Kamera: Wigdan Ibrahima in ihrem knallgelben Hidschab ist unverheiratet, kinderlos, 29 Jahre alt, mit einem robusten Auftreten. „Als ich gesehen habe, wie die Frauen auf der Suche nach ihren vermissten Männern leiden, habe ich entschieden, eine Selbsthilfeorganisation zu gründen“, beginnt sie zu erzählen. „Viele sind so verzweifelt, dass sie mit dem Gedanken spielen, sich umzubringen.“ Mit ihrem Selbsthilfeverband wolle sie nun den Frauen neue Hoffnung geben, sagt sie und lächelt durch die Kamera hindurch Adama an. „Sie hat uns vor ihrer Abreise gezeigt, wie wir mit Videobotschaften im Internet nach den Vermissten suchen können“, sagt sie und hält ihr Handy hoch. „Das hält unsere Hoffnung am Leben.“
Dann bricht die Internetleitung ab. Adama nickt, als sie auf den schwarzen Bildschirm blickt und wendet sich dann an Hassan: „Immerhin, die jüngsten Entwicklungen in Sudan geben uns neue Hoffnung“, sagt sie.
Seit Beginn des Jahres hat sich das Blatt gewendet: Sudans Armee (SAF) hat im März die Hauptstadt Khartum, wo 2023 der Krieg begonnen hatte, vollständig unter Kontrolle gebracht und macht nun in anderen Landesteilen Geländegewinn. Nach dem Sieg in Khartum wurde rund 70 Kilometer nördlich ein Gefangenenlager entdeckt, das von der RSF eingerichtet worden war. Blutspuren in den Zellen legen nahe, dass dort Menschen gefoltert wurden. Hunderte Gefangene wurden befreit, die meisten gezeichnet von Folter. Dahinter wurde ein Friedhof mit über 500 zum Teil frisch ausgehobenen Gräbern entdeckt.

All dies erhöht nun die Chance, dass unter den Befreiten wie auch den Toten irgendwann die vermissten Ehemänner auftauchen. „Doch wer ist nun zuständig, die Identitäten der Befreiten und Verstorbenen mit den Listen der Vermissten abzugleichen?“, fragt Adama. DNHR-Direktor Hassan nickt: „Es muss doch innerhalb der Vereinten Nationen Leute geben, die uns helfen können“, ist er überzeugt.
Offiziell zuständig sind gleich zwei UN-Institutionen: Die Arbeitsgruppe, sowie das Komitee für Fälle von erzwungenem Verschwindenlassen. Die beiden Teams, die unter dem UN-Menschenrechtsrat in Genf angesiedelt sind, arbeiten parallel, manchmal auch Hand in Hand.
„Familienangehörige können sich an uns wenden und wir helfen ihnen, ihre geliebten Verwandten wiederzufinden“, erklärt Aua Baldé im taz-Interview online. Die Menschenrechtsanwältin aus Guinea-Bissau ist in der UN-Arbeitsgruppe zuständig für Afrika. Das offizielle Mandat sei es, mit den zuständigen Regierungen in Kontakt zu treten, damit diese Informationen preisgeben, wo eine verschwundene Person verblieben sei. Die beiden Teams besuchen bei Bedarf auch Haftanstalten, „wenn es die Sicherheitslage zulässt“, so Baldé. In Kriegsgebieten wie Sudan sei dies derzeit jedoch nicht möglich.
Kareema Adama, Mutter zweier Kinder
Im Fall von Sudan ist die Zuständigkeit der beiden UN-Teams allerdings „verworren“, gibt Baldé offen zu. Der Grund: Die UN-Mitgliedstaaten haben 2006 ein Übereinkommen gegen „erzwungenes Verschwindenlassen“ beschlossen. Es trat 2010 in Kraft. Sudan hat es 2023 ratifiziert. Seitdem ist nun offiziell das UN-Komitee zuständig – eigentlich. Aber weil kurz darauf der Bürgerkrieg ausbrach, ist auch die entsprechende UN-Arbeitsgruppe noch aktiv, die sich um jene Länder kümmert, die dem Abkommen nicht beigetreten sind. Die Zuständigkeit für Sudan liegt immer noch „irgendwo dazwischen“, so Baldé.
Formell seien die Vertragsstaaten zwei Jahre nach der Ratifizierung verpflichtet, einen ersten Bericht einzureichen, inwieweit sie die Verpflichtungen der Konvention auch umsetzten, so Juan-Pablo Alencastro, Vorsitzender des Komitees: „Doch leider ist das im Fall von Sudan bislang nicht geschehen.“ Die taz erreicht den Menschenrechtsanwalt aus Ecuador in seinem Auto auf dem Weg zur Universität in der Hauptstadt Quito, wo er unterrichtet. Er gibt zu: Sein Team habe gerade einmal 19 Vermisstenfälle registriert und diese dem Sudan-Vertreter beim Menschenrechtsrat in Genf überreicht. „Bis heute haben wir keine Antwort erhalten“, so Alencastro und führt aus: „Wir verstehen allerdings, dass es für sie schwierig ist, über die Situation bestimmter Personen zu berichten, die von der RSF-Miliz festgenommen wurden“, so Allencastro. Sudans Regierung habe keine Kontrolle über die von der RSF eroberten Gebiete.
Er gibt offen zu: 19 Fälle sei eine extrem geringe Zahl. Das Problem: „Da Sudan erst jüngst der Konvention beigetreten ist, wissen die meisten Menschen nicht, dass wir überhaupt zuständig sind“, so Alencastro. Immerhin, die UN-Arbeitsgruppe von Baldé hat für Sudan rund 400 Fälle auf ihrer Liste. All diese seien von Menschenrechtsorganisationen gemeldet wurden, so Baldé. „Wir hoffen, dass sich mehr Leute bei uns melden, damit wir in mehr Fällen aktiv werden können.“ Bereitwillig bietet sie an, die Fälle der Frauen im Tschad und die von Hassans Organisation in die UN-Datenbank mit einzupflegen. Dafür müssten Adama und ihre Mitstreiterinnen Formulare ausfüllen und diese per E-Mail offiziell einreichen, erklärt sie: Sobald die Sicherheitslage in Sudan es erlaube, würden die UN-Teams eine Reise vorbereiten, um gezielt nach den Vermissten vor Ort zu suchen.
Als Adama davon erfährt, wirkt sie erleichtert. „Das ist ein wichtiger Schritt für uns“, lächelt sie zuversichtlich. Dann schickt sie ihren Mitstreiterinnen in Tschad via Whatsapp die Formulare. DNHR-Direktor Hassan erklärt sich bereit, den Frauen mit der Dokumentation ihrer Fälle auf Englisch und Arabisch zu helfen. „Es ist die Hoffnung, unsere Männer wiederzufinden, die uns am Leben hält“, nickt Adama und zeigt wieder auf ihr Handy. „Wir werden nie aufgeben, online nach ihnen zu suchen.“
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