: Wo die Steine erzählen
Abgeschlagene Arme, eingeschlagene Köpfe und die Einsamkeit der Liebe: Der Besucher einer idyllischen Klosterinsel im irischen River Shannon erfährt einiges über die Sitten der Vergangenheit
von MARTIN GLAUERT
Auf die „Heilige Insel“ zu kommen, ist nicht einfach. Früher musste der Besucher in einem Ruderboot gegen die Wellen des Sees Lough Derg ankämpfen, bevor er seinen Fuß auf den heiligen Boden setzen konnte. So mühselig ist es heute nicht mehr, im kleinen Hafen von Mountshannon verrät uns ein handgemaltes Blechschild den Namen des Fährmannes, der mit seinem Motorboot Besucher hinüberfährt. Schon kurz danach legen wir ab. Der Wind kommt von vorn, das Boot springt auf den Wellen wie ein Tischtennisball. Der Hafen von Mountshannon bleibt rasch zurück, baumbewachsene Inseln gleiten vorbei.
Lough Derg – übersetzt Roter See – trägt diesen Namen nicht ohne Grund: Der wohlgestaltete Stammeskönig Deirc hatte sich unsterblich in die Tochter eines Fürsten verliebt. Die aber wollte nichts von ihm wissen. In seiner Not suchte er einen weisen Druiden auf und flehte ihn an, er wolle seinen rechten Arm und sein rechtes Auge geben, wenn ihn die Angebetete nur erhören werde. Der Druide riet ihm knapp und zynisch, das solle er nur tun, dann werde sie ihm ihre Gunst schon schenken. So hieb sich der König mit einem Schwerthieb seinen rechten Arm ab, riss sich das rechte Auge heraus und wusch seine Wunden am Ufer, wobei sich der ganze See tiefrot färbte von seinem Blut. Als der König dann froh und erwartungsvoll vor seine Geliebte trat, erteilte sie ihm eine grausame Abfuhr und rief angewidert aus: „Wie könnte ich wohl dieses einäugige Monster heiraten, das mich nicht einmal in die Arme nehmen kann!“
Bald taucht die Insel vor uns auf. Unerwartet still ist es hier, nur der Wind weht vom See her und fängt sich in den Bäumen. Das Plätschern der Wellen folgt uns noch eine Weile, als wir über das Gras laufen. Kein Pfad, kein Schild weist den Weg, dann taucht ein grauer Turm vor uns auf, inmitten alter Gemäuer aus grauem Feldstein, die offensichtlich viele hundert Jahre alt sind. Dies war einmal ein Kloster, das in ganz Europa bekannt und berühmt war.
Direkt neben einer Kirche aus grobem Feldstein, deren Dach schon vor langer Zeit eingestürzt ist, liegt der „Friedhof der Heiligen“, letzte Ruhestätte für die Mönche des Klosters. Eine niedrige Steinmauer schützt Gräber und Kreuze vor den Tieren und dem stetigen Wind. Moos und Flechten haben sich in die Poren der Steine gesetzt. Die Kreuze sind verziert mit Ornamenten und alten gälischen Schriftzeichen, die bisher noch niemand entziffern konnte. Durch die runden Öffnungen in den Grabsteinen, die an keltische Einflüsse erinnern, schimmert das Grün der Bäume, die den Friedhof zum See hin abschirmen.
Einsam ragt der hohe Steinturm in den grauen Himmel. Diese Rundtürme sind ein speziell irisches Phänomen, man findet sie vorwiegend in der Nähe von Kirchen, Klöstern und Friedhöfen. Der Eingang ist hoch über dem Erdboden gelegen und die Fensteröffnungen sind winzig. So waren sie ein idealer Fluchtpunkt für die Bewohner, wenn wieder einmal Invasoren das Land heimsuchten. Dieser Turm hier ragt eindrucksvolle 24 Meter hoch, aber warum fehlt ihm die schützende Dachhaube?
Die Erklärung ist ganz einfach: Ein Maurergeselle hatte sich gerade daran gemacht, den ersten Dachziegel aufzulegen, als eine junge Frau unten am Turm vorbeilief. Sie versäumte es, den sonst üblichen Gruß „Gott segne die Arbeit und auch den Arbeiter!“ hinaufzurufen. Der Geselle schloss daraus messerscharf, dass es sich nur um eine Hexe handeln konnte und schleuderte seinen schweren Hammer nach ihr. Die Hexe floh entsetzt, noch heute kann man den steinernen Fußabdruck sehen, den sie beim Absprung von der Insel am Ufer hinterließ.
Der Maurer aber verlor nach diesem Vorfall jegliches Interesse am Weiterbau des Daches, vielmehr ergriff schon sehr bald ein körperlicher und seelischer Verfall von ihm Besitz. Als er nun so jämmerlich am Fuße des Turmes saß, tauchte noch einmal die junge Hexe auf, um ihren Triumph zu genießen. Mit letzter Kraft aber griff der brave Gesell zum Hammer und schlug ihr damit auf den Kopf. Im selben Augenblick wurde die junge Frau zu Stein verwandelt.
Doch von der steinernen Frau ging ein solcher Liebreiz aus, dass sie zur Pilgerstätte der Mönche wurde. Die heimlichen Verehrer ließen die holde Figur Stück für Stück in der Tasche verschwinden, so dass heute von ihr nur mehr ein grober Klotz geblieben ist, der am Fuße des Turmes im Boden steckt.
In aufgeklärteren Zeiten angekommen, lagern wir unter Bäumen auf dem weichen, grünen Rasen. Die Sonne ist hervorgekommen und räkelt sich in einem strahlend blauen Himmel. Über den flachen Hügelrücken, auf dessen Kuppe ein zerzauster Baum dem Wind einsam die Stirne bietet, geht es zurück zum Bootssteg für die Rückfahrt. „Hier ist der Stein zum Zeugnis der Seele geworden“, hat ein Dichter über Holy Island geschrieben, „ein Gebet in Stein“, das verklingt, als die Insel am Horizont verschwindet.
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