Wo Russland militärisch steht: Drohnenproduktion auf Rekordniveau
Russland wird in den kommenden Monaten im Krieg gegen die Ukraine seine Feuerüberlegenheit zu Land und in der Luft behalten. Wenn der Krieg andauert.

Nato-Generalsekretär Mark Rutte hat sich neulich der New York Times gegenüber verwundert über das industrielle Potenzial des größten Landes der Welt geäußert: „Russland stellt sich in einer Geschwindigkeit neu auf, die in der jüngeren Geschichte beispiellos ist. Sie produzieren jetzt in drei Monaten dreimal so viel Munition wie die gesamte Nato in einem Jahr.“
Das Seltsame an dieser „Statistik“ ist, dass Rutte keine Maßeinheit genannt hat. Spricht er von Patronen oder von ballistische Raketen? Eine detaillierte Berechnung der wichtigsten Produktionskapazitäten der Nordatlantischen Allianz und Russlands, die der Militärexperte von Radio Liberty, Evgenij Legalov, durchgeführt hat, hat gezeigt, dass in Wirklichkeit beide Seiten im Wettrüsten gleichauf liegen. Das bedeutet, dass Russland, das nicht gegen die Nato, sondern nur gegen die Ukraine Krieg führt, in den kommenden Monaten seine Feuerüberlegenheit zu Land und in der Luft behalten wird.
Russland dringt in weitere Gebiete vor
Die materielle Überlegenheit macht sich an der Front bemerkbar. Während die russische Armee von Februar bis April dieses Jahres durchschnittlich 170 Quadratkilometer pro Monat erobert hat, waren es von Mai bis Juli schon 526, also dreimal so viel, wie das ukrainische Analyseprojekt Deepstate berichtet.
Mit dem Einmarsch im 24. Februar 2022 begann der groß angelegte russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Bereits im März 2014 erfolgte die Annexion der Krim, kurz darauf entbrannte der Konflikt in den ostukrainischen Gebieten.
Das ist zwar weniger als 1 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets, aber die russischen Aggressoren sind jetzt in zwei weitere Gebiete vorgedrungen: Seit Mai hat die Infanterie die ukrainischen Verteidiger im Norden des Gebietes Sumy zurückgedrängt, was den Beschuss von Sumy jetzt erleichtert. Außerdem haben die russischen Streitkräfte die Grenze zum Gebiet Dnipropetrowsk überschritten, auch wenn dies bislang eher propagandistische als operative Bedeutung hat.
Erklärtes Kriegsziel: vollständige Eroberung des Donbass
Militäranalysten sind sich einig, dass sich die Russen in den kommenden Monaten auf die Eroberung des restlichen Teils der Donbass-Region – der Agglomeration Slowjansk-Kramatorsk – konzentrieren werden. Die Eroberung des gesamten Donbass ist seit Februar 2022 das erklärte und unveränderte Ziel der russischen „Spezialoperation“. Ablenkungsangriffe an anderen Frontabschnitten, insbesondere im Norden und Südosten, also in den Gebieten Charkiw und Saporischschja, sind möglich.
Die Hafenstadt Odessa bleibt für die Angreifer eine harte Nuss, auch wenn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf dem Ukraine-Südosteuropa-Gipfel im Juni erklärte, dass Putins Plan darin bestehe, bis an die Grenzen der Republik Moldau und Rumäniens vorzustoßen. Die Überquerung des breiten Dnipro-Unterlaufs oder eine Anlandung vom Meer aus sind für die russische Armee zu teuer und zu riskant. Zumal die Ukrainer bereits einen beträchtlichen Teil der feindlichen Flotte versenkt oder aus der Hafenstadt Sewastopol auf der Krim nach Osten – nach Noworossijsk – vertrieben haben.
Russische Drohnenproduktion auf Rekordniveau
Noch wichtiger aber ist wohl die Wende in der Luft, die wir gerade in diesen Wochen beobachten. Noch am 7. Juni hatte der Leiter der Kommunikationsabteilung der ukrainischen Luftstreitkräfte, Yurii Ihnat, erklärt, dass Russland in naher Zukunft nicht in der Lage sein werde, 1.000 Drohnen pro Tag zu starten. Doch nun brechen die Russen in dieser Hinsicht einen Rekord nach dem anderen: In der Nacht vom 8. auf den 9. Juli wurde die Ukraine von 728 Drohnen angegriffen, Raketen noch nicht mitgezählt. Die meisten dieser Drohnen können mit Mitteln der elektronischen Kriegsführung zum Absturz gebracht werden, aber die glühenden Trümmer verursachen Zerstörungen und Brände.
Äußerst effektiv ist dabei der Einsatz von Fake-Drohnen: Diese billigen Geräte machen bis zu einem Drittel der auf die Ukraine fliegenden Drohnenschwärme aus, überlasten jedoch die ukrainische Luftabwehr und zwingen sie, teure Munition aus amerikanischen Patriot-Systemen zu verbrauchen. Am 4. Juli ordnete Selenskyj die Massenproduktion von Abfangdrohnen an. Wie jedoch der erneute Raketen- und Drohnenangriff auf Kyjiw in der Nacht zum 31. Juli zeigt, bei dem mehr als dreißig Menschen getötet und über 150 verletzt wurden, sind diese noch kein Allheilmittel.
Eine neue Taktik bei Drohnenangriffen ist, dass die Russen weniger als bislang wirtschaftliche oder militärische Einrichtungen beschießen, sondern mehr Wohngebiete. So entgehen sie den großkalibrigen Maschinengewehren mobiler Abwehrgruppen, die normalerweise Drohnen in bis zu 2 Kilometern Höhe treffen können. Deshalb fliegen die russischen Kamikazedrohnen jetzt in 3 Kilometer Höhe und stürzen dann einfach ab. Jetzt verursacht ein Treffer weniger Opfer und Zerstörung als zuvor.
Ukrainer sehen Zukunft ihres Landes pessimistisch
Die Ukraine ihrerseits greift verstärkt das russische Hinterland an: Militärflugplätze, Rüstungsfabriken und Ölraffinerien sowie Bahnhöfe werden zum Ziel von Drohnenangriffen. Wie jedoch der in der Ukraine lebende russische Militärexperte Kirill Michailow der taz sagte, gibt es bislang keine Beispiele dafür, dass das militärisch-wirtschaftliche Potenzial eines Gegners aus der Luft zerstört werden konnte, denn selbst die Flächenbombardements der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs waren seinerzeit nicht gänzlich effektiv.
Obwohl der Einsatz hochpräziser Waffen gegen den russischen Goliath von den westlichen Verbündeten gebilligt und konsequent ausgeweitet wird, können sie dessen Kampfkraft nur langfristig entscheidend beeinträchtigen. Doch hat die Ukraine dafür Zeit? Nach Angaben des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) sahen im Mai und Juni fast die Hälfte der befragten Ukrainer – 47 Prozent – ihr Heimatland in zehn Jahren zerstört und dünn besiedelt. Noch im Dezember 2024 waren es nur 28 Prozent, trotz der damaligen Vorstöße der Russen an der Front.
Gleichzeitig gaben im Juli 2025 laut einer Meinungsumfrage des Moskauer Levada-Zentrums 77 Prozent der befragten Einwohner Russlands an, die Aktionen der russischen Armee in der Ukraine zu unterstützen. Gleichzeitig wünschten sich jedoch zwei Drittel der Russen die Aufnahme von Friedensverhandlungen. Mit anderen Worten: Viele der Russen, die ein Ende des Krieges wünschen, stehen dessen Fortsetzung tolerant gegenüber. Und da die Armee, wenn auch langsam, vorrückt, ist in den kommenden Monaten kaum mit einer grundlegenden Änderung dieser passiv-aggressiven Stimmung zu rechnen.
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
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